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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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an, morgens sehe ich schrecklich aus.« Es stimmte, sie sah schrecklich aus, aber das hätte Martin natürlich nie gesagt. Er wollte sie nach ihrem Alter fragen, aber er vermutete, das würde es noch schlimmer machen.
    Später, bei einem teuren Abendessen, das sie, wie Martin meinte, verdienten, weil sie mehr als nur den Kurs überlebt hatten, in einem Hotel, das auf den Lake Windermere hinausging, prostete sie ihm mit einem guten stählernen Chablis zu und sagte: »Weißt du, Martin, du bist der Einzige in dem Kurs, der ein Wort neben das andere setzen kann, ohne dass ich verdammt noch mal kotzen möchte, entschuldige den Ausdruck. Du solltest Schriftsteller werden.«
     
    Martin rechnete damit, dass sich der Honda-Fahrer vom Boden aufrappeln und in der Menge nach dem Täter suchen würde, der das Geschoss auf ihn abgefeuert hatte. Er versuchte, zu einer anonymen Gestalt in der Schlange zu werden, so zu tun, als würde er nicht existieren. Er schloss die Augen. In der Schule hatte er sich oft an diesen uralten, verzweifelten Zaubertrick wie an einen Strohhalm geklammert, wenn er schikaniert wurde – sie würden ihn nicht schlagen, wenn er sie nicht sah. Er stellte sich vor, wie der Honda-Fahrer auf ihn zuging, den Baseballschläger hoch erhoben, um mit Schwung den vernichtenden Schlag auszuführen.
    Als er die Augen wieder öffnete, stieg der Honda-Fahrer zu seinem Erstaunen gerade in seinen Wagen. Als er davonfuhr, begannen ein paar Leute in der Menge zaghaft zu klatschen. Martin war nicht sicher, ob sie Missfallen über das Verhalten des Honda-Fahrers oder Enttäuschung darüber ausdrücken wollten, dass er die Sache nicht bis zum Ende durchgezogen hatte. Wie auch immer, die Leute waren nur schwer zufriedenzustellen.
    Martin kniete sich auf den Boden und sagte: »Alles in Ordnung?« zu dem Peugeot-Fahrer, und dann wurde er höflich, aber bestimmt von zwei Polizistinnen beiseite geschoben, die dazugekommen waren und das Heft in die Hand genommen hatten.

3
    G loria hatte nicht gesehen, was passiert war. Sie vermutete, dass sich das Gerücht entlang dem Rückgrat der Schlange ausgebreitet hatte wie bei der stillen Post:
Jemand wurde ermordet
. »Wahrscheinlich hat sich jemand vorgedrängelt«, sagte sie zu der schnatternden Pam neben sich. Gloria war stoisch, wenn sie Schlange stand. Leute, die sich beschwerten oder mit den Füßen scharrten, als wäre ihre Ungeduld ein Zeichen von Individualität, gingen ihr auf die Nerven. Schlange stehen war wie das Leben selbst, man hielt den Mund und machte weiter. Es war eine Schande, dass sie für den Zweiten Weltkrieg gerade zu spät geboren war, sie besaß genau die Art von Langmut, die zu Kriegszeiten gefordert war. Stoizismus war Glorias Ansicht nach eine überaus unterschätzte Tugend in der modernen Welt.
    Sie konnte verstehen, dass man Vordrängler umbringen wollte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie mittlerweile jede Menge Leute kurzerhand exekutieren lassen – Leute, die Abfall auf die Straße warfen zum Beispiel, sie würden es sich bestimmt zweimal überlegen, ob sie Bonbonpapier einfach so fallen ließen, wenn sie dafür am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft werden konnten. Gloria war früher gegen die Todesstrafe gewesen – sie erinnerte sich, dass sie während ihrer zu kurzen Zeit an der Universität gegen die Vollstreckung der Todesstrafe in einem weit entfernten Land, das sie auf der Landkarte nicht einmal gefunden hätte, demonstriert hatte, aber jetzt tendierten ihre Gefühle in die entgegengesetzte Richtung.
    Gloria mochte Regeln, Regeln waren eine gute Sache. Gloria mochte Regeln, die bestimmten, dass man nicht schnell fahren oder im Halteverbot parken durfte, Regeln, die festlegten, dass man keinen Abfall wegwerfen oder Gebäude beschmieren durfte. Sie hatte es satt, dass Leute sich über das Geblitztwerden oder über Strafzettel für falsches Parken beschwerten, als wären sie eine Ausnahme. Als sie jünger war, hatte sie von Sex und Liebe phantasiert, davon, Hühner zu halten und Bienen zu züchten, größer zu sein, mit einem schwarzweißen Collie über eine Wiese zu laufen. Jetzt träumte sie davon, Türsteherin zu sein, mit dem ultimativen Abrechnungsbuch dazustehen und die Namen der Toten abzuhaken, die vor sie traten, sie durchzunicken oder den Daumen nach unten zu halten. Allen diesen Leuten, die an Bushaltestellen parkten oder bei Rot über eine Fußgängerampel gingen, würde es sehr leidtun, wenn Gloria sie erst über ihre
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