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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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Leben
(Miltons Frauen
) war erfolglos beim Edinburgh Fringe aufgeführt worden. Das Wort »Edinburgh« musste im Kurs nur erwähnt werden, und Martin wurde krank vor Sehnsucht nach einem Ort, den er kaum kannte. Seine Mutter war in der Stadt geboren, und er hatte die ersten drei Jahre seines Lebens dort verbracht, als sein Vater in der Burg stationiert war. Eines Tages, dachte er, während Dorothy etwas über Form und Inhalt und die Notwendigkeit, »die eigene Stimme zu finden«, plapperte, eines Tages würde er nach Edinburgh zurückkehren und dort leben. »Und lesen!«, rief sie und breitete die Arme aus, so dass ihr voluminöser Samtumhang aufklappte wie Fledermausflügel. »Lesen Sie alles, was jemals geschrieben wurde.« Ein paar Kursteilnehmer murrten aufrührerisch – sie (zumindest einige von ihnen) waren gekommen, um schreiben zu lernen, nicht um zu lesen.
    Dorothy wirkte dynamisch. Sie trug roten Lippenstift, lange Röcke und farbenfrohe Schals und Schultertücher, die sie mit großen Zinn- oder Silberbroschen feststeckte. Sie hatte eine Schwäche für Stiefeletten mit hohen Absätzen, schwarze Strümpfe mit Rautenmuster, lustige, zerknautschte Samthüte. Das war zu Beginn des Herbstsemesters, als der Lake District farbenprächtig herausgeputzt war, aber als er im grauen feuchten Winter versank, kleidete sich Dorothy in weniger theatralische Gummistiefel und Fleecejacken. Und sie war weniger theatralisch. Zu Beginn des Kurses hatte sie des Öfteren beiläufig von ihrem »Partner« gesprochen, der irgendwo ein Stipendium als Stadtschreiber hatte, aber als Weihnachten drohend näher rückte, erwähnte sie ihn nicht mehr, und ihr Lippenstift war nicht länger rot, sondern beige wie ihre Haut.
    Aber auch von dieser bunten Ansammlung von Rentnern, Bäuerinnen und Leuten, die ihr Leben ändern wollten, bevor es zu spät war, schien Dorothy enttäuscht. »Es ist nie zu spät!«, erklärte sie mit der Begeisterung eines Evangelisten, aber die meisten von ihnen hatten begriffen, dass es das bisweilen war. Da war ein ruppiger Mann, der sie alle zu verachten schien und auf eine Hughes’sche Art über Raubvögel und tote Schafe auf Berghängen schrieb. Martin vermutete, dass er einen ländlichen Beruf ausübte – Bauer oder Wildhüter –, aber es stellte sich heraus, dass er ein arbeitsloser Geologe aus dem Ölgeschäft war, der in den Lake District gezogen und ein Einheimischer geworden war. Da war ein Mädchen, Typ Studentin, die sie tatsächlich verachtete. Sie trug schwarzen Lippenstift (ein beunruhigender Gegensatz zu Dorothys Beige) und schrieb über ihren eigenen Tod und seine Auswirkungen auf die Leute in ihrer Umgebung. Und da waren ein paar nette Damen, Mitglieder des Frauenverbands, die überhaupt nicht schreiben zu wollen schienen.
    Dorothy drängte sie, kleine autobiografische Texte über Angst und Beichtstuhlgeheimnisse, therapeutische Texte über ihre Kindheit, ihre Träume, ihre Depressionen zu verfassen. Stattdessen verbreiteten sie sich über das Wetter, Urlaub, Tiere. Der ruppige Mann schrieb über Sex, und alle starrten auf den Boden, während er laut vorlas, nur Dorothy hörte ausdruckslos und mit Interesse zu, den Kopf schräg gelegt, die Lippen aufmunternd gespannt.
    »Na gut«, sagte sie und gab sich geschlagen, »schreiben Sie als ›Hausaufgabe‹ über einen Besuch oder einen Aufenthalt im Krankenhaus.« Martin fragte sich, wann sie anfangen würden, Literatur zu verfassen, aber der Pädagoge in ihm reagierte auf das Wort
Hausaufgabe,
und er machte sich gewissenhaft an die Arbeit.
    Die Damen vom Frauenverband schrieben sentimentale Texte über Besuche bei Alten und Kindern im Krankenhaus. »Charmant«, sagte Dorothy. Der ruppige Mann schilderte in grusligen Details, wie ihm der Blinddarm herausgenommen wurde. »Kraftvoll«, sagte Dorothy. Das unglückliche Mädchen schrieb über seinen Krankenhausaufenthalt in Barrow-in-Furness, nachdem es versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. »Eine Schande, dass sie es nicht geschafft hatte«, flüsterte die Bäuerin, die neben Martin saß.
    Martin war nur einmal im Krankenhaus gewesen, mit vierzehn – Martin hatte feststellen müssen, dass jedes Jahr seiner Teenagerzeit eine neue Hölle mit sich brachte. Auf dem Rückweg aus der Stadt war er an einem Rummelplatz vorbeigekommen. Sein Vater war damals in Deutschland stationiert, und Martin und sein Bruder Christopher verbrachten die Sommerferien dort, um sich von den Unbilden des
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