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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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eine Stufe über dem Armenhaus. Nachdem er die Atmosphäre kalter Duschen und langer Querfeldeinläufe
(Wir machen Männer aus Jungen)
hinter sich gelassen hatte, studierte Martin an einer drittklassigen Universität, wo er einen ebenfalls drittklassigen Abschluss in Religionswissenschaft machte, weil es das einzige Fach war, in dem er in der Schule gute Noten gehabt hatte – dank der unbarmherzigen, verpflichtenden Bibelstudien, die im Internat die gefährlichen Mußestunden pubertierender Jungen füllten.
    Auf das Studium folgte eine Lehrerausbildung, damit er Zeit hatte, darüber nachzudenken, was er »wirklich« tun wollte. Er hatte definitiv nie vorgehabt, tatsächlich Lehrer zu werden, schon gar nicht Religionslehrer, aber mit zweiundzwanzig stellte er fest, dass sich der Kreis irgendwie geschlossen hatte und er für ein geringes Gehalt in einem kleinen Internat im Lake District Jungen unterrichtete, die die Aufnahmeprüfung für eine bessere Privatschule nicht bestanden hatten und sich ausschließlich für Rugby und Masturbieren interessierten.
    Er betrachtete sich selbst als jemanden, der schon alt geboren worden war, doch er war nur vier Jahre älter als seine ältesten Schüler, und es schien lächerlich, dass er sie überhaupt unterrichten sollte, insbesondere im Fach Religion. Natürlich war er in den Augen seiner Schüler nicht etwa ein junger Mann, sondern ein »alter Trottel«, auf den sie keinerlei Rücksicht nahmen. Es waren grausame, gefühllose Jungen, aus denen aller Wahrscheinlichkeit nach grausame, gefühllose Männer werden würden. So wie Martin es sah, erhielten sie die passende Ausbildung, um eines Tages die Hinterbänke der Konservativen im Parlament zu füllen, und er empfand es als seine Pflicht zu versuchen, ihnen ein Konzept von Moral zu vermitteln, bevor es zu spät war – obschon es leider für die meisten bereits genau das war. Martin selbst war Atheist, doch er wollte für sich die Möglichkeit, eines Tages eine Konversion – ein plötzliches Lüften des Schleiers, ein Öffnen seines Herzens – zu erleben, nicht völlig ausschließen. Dennoch hielt er es für wahrscheinlicher, dass er dazu verdammt war, für immer auf der Straße nach Damaskus zu bleiben, der meistbegangenen Straße.
    Wenn der Lehrplan es nicht ausdrücklich vorschrieb, neigte Martin dazu, das Christentum so weit wie möglich zu ignorieren und sich stattdessen auf Ethik, vergleichende Religionswissenschaft, Philosophie, sozialwissenschaftliche Studien (auf alles außer auf das Christentum) zu konzentrieren. Wenn ihn ein rugbyspielender, anglikanischer, faschistischer Vater zur Rede stellte, entschuldigte er sich mit der Behauptung, »Verständnis und Spiritualität fördern zu wollen«. Er verbrachte viel Zeit damit, die Jungen für die Lehren des Buddhismus zu interessieren, weil er, mittels Versuch und Irrtum, herausgefunden hatte, dass es die wirksamste Möglichkeit war, sie zu verwirren.
    Er dachte: Ich werde das nur kurze Zeit machen, und dann werde ich vielleicht reisen oder mich weiterqualifizieren oder eine interessantere Arbeit finden und ein neues Leben beginnen. Aber stattdessen ging sein altes Leben immer weiter, und er spürte, dass es sich in nichts auflöste, dass es fadenscheinig wurde, und wenn er nichts unternähme, würde er ewig dort bleiben, immer älter als die Jungen werden, bis er pensioniert und irgendwann sterben würde, nachdem er den Großteil seines Lebens in einem Internat verbracht hätte. Er wusste, dass er selbst aktiv werden musste, er war nicht die Sorte Mensch, der einfach irgendetwas
passierte
. Sein Leben war bislang nicht in Gang gekommen: Er hatte sich nie einen Knochen gebrochen, war nie von einer Biene gestochen worden, war der Liebe oder dem Tod nie nahe gewesen. Er hatte nie nach Größe gestrebt, und dafür war er mit einem kleinen Leben belohnt worden.
    Er näherte sich den vierzig und fuhr in einem Schnellzug Richtung Tod – er hatte schon immer zu fiebrigen Metaphern tendiert –, als er einen Creative-Writing-Kurs belegte, der von einer Art Bildungsinitiative für ländliche Gegenden angeboten wurde. Der Kurs fand in einem Gemeindesaal statt und wurde geleitet von einer Frau namens Dorothy, die aus Kendal kam und deren Qualifikation nebulös blieb. Sie hatte ein paar Geschichten in einer Kulturzeitschrift im Norden veröffentlicht, Lesungen gemacht und Workshops gehalten (zum Thema
work in progress
), und ein Stück von ihr über die Frauen in Miltons
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