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Liebesbisse

Liebesbisse

Titel: Liebesbisse
Autoren: Claire Castillon
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mich nicht verraten, er hat nur mit seinem engsten Cousin über seinen bevorstehenden Ruhestand gesprochen und über den Vertrag, den er in der Tasche hatte. Und dann über das Haus, in das wir ziehen würden. Der Cousin wollte genauer wissen, wo wir hinziehen, dann trübte sich meine Sicht, ich dachte, meine Augen tränten, doch sie waren vollkommen trocken. Es wurde Nacht, alles verschwamm. Im Wagen habe ich nichts mehr gesehen. Und nichts gesagt. Komischerweise war ich erleichtert. Er sprach noch von dem schönen Landhaus. Dort würden wir unseren Lebensabend verbringen. Warum?, fragte ich. Neues Leben, neuer Luxus, sagte er nur.
    Ich musste seinen Arm nehmen, um ins Haus zu finden. Auf der Treppe zum Schlafzimmer wurde alles schwarz. Ich zog mich aus. Dann zog ich einen Regenmantel statt des Nachthemds an, aber er hat nicht reagiert. Ich sagte, ich sehe nichts mehr, und er strich mir übers Haar und nannte mich Liebling.
     
    Ich habe gewartet, bis es heller Tag war. Er hat sich gewundert, dass ich kein Frühstück gemacht hatte. Als er arbeiten ging, stand ich auf. Ich weiß, wo die Wände sind, ich fiel nicht hin, ich verirrte mich nicht, als ich das Nötigste zusammensuchte, um zu gehen. Am Abend fand er mich, ich saß auf dem Boden, mein Bündel neben mir. Er fragte, was los sei. Ich sehe nichts mehr, sagte ich wieder. Da wusste er, dass es wahr war. Er regte sich auf, fuchtelte mit den Händen vor meiner Nase herum, doch ich sah sie nicht, ich spürte sie nur, diese Finger, die unterschrieben und mich verraten hatten, als er die Frührente akzeptiert hatte. Ich sah nichts mehr, und es ging mir gut.
     
    Sie ist durch einen Schock erblindet, sagte ein Spezialist vor dem argwöhnischen Auge meines Mannes, der von Psychologie nichts hält. Körperlich kann man keine besondere Störung diagnostizieren, ihr Auge kann sehen, sie will es nur nicht. Das kann vorkommen, erläuterte der Arzt. Es reicht jetzt, sieh wieder, worauf wartest du? Du hörst doch, dass du sehen kannst!, argumentierte mein Mann.
    Und du, geh wieder arbeiten, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken.
     
    Immer wieder habe ich Flashs, Lichtblitze, wenn mein Mann weg ist. Beim letzten Mal habe ich seinen Mantel geholt und ihn durchsucht. In der Tasche fand ich einen Plan des Hauses. Dann wurde wieder alles schwarz, und ich konnte ihn nicht mehr sehen. Seitdem verliere ich manchmal die Stimme. Ärztliche Diagnose. Es kommt Ihnen zupass, nichts sagen zu müssen, meint er nun. Er sprach von hysterischer Konversion, ein schrecklicher Ausdruck, der meinen Mann schockiert hat. Er könnte sich eingehender darüber informieren, aber er will lieber für eine Wunderheilung nach Lourdes fahren.
     
    Das Leben geht weiter. Mein Geruchssinn wird stärker. Ich kümmere mich nicht mehr um die Wohnung. Ich lüfte sie oder sperre sie ab, sobald mein Mann sie verlässt. Bald würde er die ganze Zeit hier sein – stolz spricht er von seiner Abfindung; er hat bekommen, was er wollte. Aber er grämt sich, er will, dass ich wieder sehe. Sonst verzögert sich unser Umzug aufs Land. Manchmal schlafen wir miteinander. Ich spüre ihn auf mir, aber ich stelle mir immer vor, es wäre ein anderer. Oft der Nachbar; dann plötzlich ist es eine Art Buche, und einmal kann ich mich erinnern, eine große Ente gesehen zu haben. Sie hatte zwei kleine Flügel, konnte aber nicht fliegen.
     
    Manchmal sage ich mir, wenn ich weggehe, wenn ich meinen Mann verlasse, kann ich vielleicht wieder sehen. Es kommt mir übertrieben vor, wegen so wenig – wegen eines Ruhestands und eines schönen Hauses – das Sehvermögen zu verlieren. Doch seit dreiunddreißig Jahren tun wir alles, um nicht allein zu sein, allein miteinander, in den Ferien, beim Abendessen. Die Zweisamkeit wird uns umbringen. Einer von uns beiden muss sterben. Und das sieht er nicht ein, er denkt, dass ein Tapetenwechsel das Problem löst. Daher – wenn mein Mann korrekt gewesen wäre, hätte er dafür gesorgt, einen kleinen, schnellen und wirksamen Infarkt zu bekommen, bevor ich dafür sorge. Wenn er, wenn möglich, ohne Folgeerscheinungen weiterlebt, werden wir jeden Tag wie den letzten Augenblick leben. Den ganzen Tag, die ganze Woche über zu zweit allein und bei guter Gesundheit in diesem Haus – was sollen wir also tun, außer die Freunde zu bitten, sonntags an uns zu denken und bei uns zu übernachten?
     
    Es ist mein Geheimnis. Seit vier Jahren kann ich wieder sehen, aber ich sage es ihm nicht. Er hat das Haus
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