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Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn

Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn

Titel: Lieber Daniel. Briefe an meinen Sohn
Autoren: Sergio Bambaren
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den Weg bekommen habe, mit dem ich heute aber dank der Entwicklung neuartiger Medikamente leben kann: Depressionen.
    Von meinem Vater habe ich Einfühlsamkeit und eine kritische Sicht der Welt geerbt; das kann ich in aller Bescheidenheit sagen. Er hat eine ganz besondere Beziehung zu seinen Patienten, er ist ein »richtiger« Doktor, der sich immer sehr intensiv um die Menschen kümmert und seine Dienste nur denen in Rechnung stellt, die auch bezahlen können. Die anderen werden umsonst behandelt. Er ist der geborene Arzt – und noch sehr viel mehr. Ich habe die Zuneigung in den Augen seiner Patienten selbst gesehen, er versetzt sich in sie hinein und sorgt dafür, dass es ihnen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch besser geht. Wann immer ein Patient seine Hilfe braucht, ist er zur Stelle – auch um drei Uhr nachts würde er sich anziehen, in die Klinik oder zu dem Patienten nach Hause fahren und auf eine Weise helfen, wie nur er es kann und versteht. Er ist ein Mann mit Prinzipien, und ich werde ihm immer dankbar sein, dass er mir beigebracht hat, nach diesen Prinzipien zu leben. Doch es ist eben nichts vollkommen, und so habe ich von ihm eine Alkoholintoleranz geerbt. Doch zum Glück haben wir beide irgendwann gelernt, damit umzugehen, indem wir einfach keinen Alkohol mehr trinken.
    So bin ich also aufgewachsen. Ich hatte einen tollen Vater, eine wundervolle Mutter und einen Bruder, der ein Jahr älter ist als ich. Wir balgten uns Tag und Nacht wie alle Brüder, aber er war immer für mich da und beschützte mich, wenn mir jemand etwas antun wollte. Auch heute noch würde er jederzeit für mich einstehen.
    Leider hatte ich nicht das Glück, meine Großeltern kennenzulernen, außer meinen Großvater väterlicherseits. Er war ein sehr kluger Psychiater, der immer ein liebendes Lächeln für seine Enkel hatte. Er vermittelte mir mit sieben Jahren meinen ersten Job und brachte mir bei, dass harte Arbeit nicht nur ein rechtschaffener Weg ist, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern dass sie auch Körper und Geist gesund hält.
    Ich dachte, das Leben würde immer so einfach bleiben. Damals wusste ich noch nicht, dass sich von einem Tag auf den anderen alles ändern kann und dass sich auch die Menschen mit der Zeit verändern.
    Doch solange ich auf das weite Meer blicken und mit den Möwen und dem Wind sprechen konnte, war ich ein glückliches Kind.
     

mir kommt es so vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass Du geboren wurdest! Wie rasch doch die Zeit vergeht!
    Es war wirklich ein beeindruckendes Erlebnis, Dich auf diese Welt kommen zu sehen, Daniel. Zum Glück verlief Deine Geburt ohne jede Komplikation. Doch als Du Deinen ersten Atemzug getan und angefangen hast zu schreien, fiel mir etwas auf: Ich spürte, dass Du nicht geweint hast, weil Neugeborene das nun mal tun, sondern weil man Dich aus einem schönen, sicheren Ort vertrieben hatte, der in Deinen ersten neun Monaten Deine Heimat gewesen war: aus dem warmen, weichen Bauch Deiner Mutter, wo nichts Deinem Herzen und Deiner Seele etwas anhaben konnte, wo Du Ruhe und Frieden empfandest. Es tat mir ein bisschen leid für Dich. Vielleicht wolltest Du ja noch weitere neun Monate dort bleiben, um Dich auf die Welt da draußen besser vorzubereiten. Aber die Natur weiß, was sie tut, und alles geschieht dann, wenn die Zeit dafür reif ist.
    Schon mit einem Jahr konntest Du laufen. Du wolltest alles entdecken! Und manchmal warst Du so aufgeregt, dass Du über Deine eigenen, noch so zarten Beinchen stolpertest und auf die Nase fielst. Alle sagten, wir sollten aufpassen, dass Du nicht hinfällst. Aber ich erwiderte immer: »Lasst ihn doch, das ist normal.« Und jeder Erwachsene weiß, dass das Hinfallen an sich Dir nichts ausmacht, Daniel, solange Dich niemand dabei sieht. Wenn Du hinfällst und Dich niemand sieht, weinst Du auch nicht. Dann stützt Du Dich auf Deine kleinen Hände und rappelst Dich gleich wieder auf. Du kommst immer wieder auf die Beine, und dann erstrahlt ein Lächeln in Deinem Gesicht.
    Ich sehe Dir gern dabei zu, Daniel, wie Du hinfällst und von ganz allein wieder aufstehst. Denn diese Schritte, die Du nun unternimmst, mögen den anderen winzig vorkommen, aber für Dich sind sie von enormer Bedeutung. Es wird irgendwann im Leben eine Zeit kommen, Daniel, in der Du straucheln und Dich alleingelassen fühlen magst. Aber solange Du jeden Morgen mit diesem wunderbaren Lächeln erwachst und solange Du Dich nicht schämst, wenn Du
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