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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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betrachtete er niemals mit Furcht. Vergaß er es? Oder gab es da so viel Gutes für ihn, dass das andere darin verschwand?
     
    Eines Tages im März klingelte das Telefon, als ich arbeitete, die Nummer sagte mir nichts, aber da es eine schwedische und keine norwegische war, ging ich trotzdem an den Apparat. Es war ein Kollege meiner Mutter, er und sie nahmen in Göteborg an einem Seminar teil, Mutter war plötzlich in einem Geschäft ohnmächtig geworden und ins Krankenhaus gebracht worden, wo sie nun auf der Intensivstation lag. Ich rief dort an, sie hatte einen Herzinfarkt erlitten, war mittlerweile operiert worden und außer Gefahr. Am späten Abend rief sie selber an. Ich hörte, dass sie schwach und vielleicht auch ein wenig verwirrt war. Sie meinte, sie hätte solche Schmerzen
gehabt, dass sie lieber gestorben wäre, als weiter diese Schmerzen zu ertragen. Ohnmächtig geworden war sie nicht, nur zusammengebrochen. Und das auch nicht in einem Geschäft, sondern auf der Straße. Während sie dort lag, erklärte sie jetzt, überzeugt, dass es aus war, hatte sie gedacht, dass sie ein fantastisches Leben geführt hatte. Als sie das sagte, schauderte es mich.
    Das hatte etwas ungeheuer Schönes.
    Weiter sagte sie, vor allem ihre Kindheit sei ihr in einer Art plötzlicher Erkenntnis in den Sinn gekommen, als sie vermeintlich im Sterben lag: Sie habe eine wirklich einmalige Kindheit gehabt, sie sei frei und glücklich gewesen, es sei fantastisch gewesen. In den folgenden Tagen musste ich immer wieder an ihre Worte denken. Sie erschütterten mich irgendwie. Ich hätte das niemals denken können. Würde ich jetzt umkippen und hätte ein paar Sekunden oder auch Minuten, um nachzudenken, ehe es vorbei war, würde ich an das Gegenteil denken. Dass ich nichts zustande gebracht, nichts gesehen, nichts erlebt habe. Ich will leben. Aber warum lebe ich dann nicht? Warum lautet mein Gedanke, wenn ich mir in einem Flugzeug oder Auto vorstelle, dass es abstürzen oder mit einem anderen zusammenstoßen könnte, dass dies nicht so schlimm ist? Es nicht so darauf ankommt? Ich ebenso gut sterben wie leben kann? Denn das denke ich meistens. Gleichgültigkeit ist eine der sieben Todsünden, im Grunde die größte von allen, weil sie sich als einzige gegen das Leben versündigt.
     
    Später in diesem Frühjahr, als ich mich dem Ende der Geschichte von Vaters Tod näherte, den schrecklichen Tagen in dem Haus in Kristiansand, kam Mutter zu Besuch. Sie hatte an einem weiteren Seminar in Göteborg teilgenommen und schaute danach bei uns vorbei. Drei Monate waren vergangen, seit sie in derselben Stadt umgekippt war. Wäre sie zu
Hause zusammengebrochen, hätte sie wahrscheinlich nicht überlebt, denn sie wohnte allein, und falls sie es wider Erwarten geschafft hätte, Hilfe zu rufen, wäre das nächstgelegene Krankenhaus eine Autofahrt von vierzig Minuten entfernt gewesen. In Göteborg war sie sofort gesehen worden, und es war nur wenig Zeit verstrichen, bis sie auf dem Operationstisch lag. Nun stellte sich heraus, dass der Infarkt nicht aus heiterem Himmel gekommen war. Sie hatte Schmerzen gehabt, zeitweise sogar starke Schmerzen, aber gedacht, das läge am Stress, so dass sie es verdrängt und sich überlegt hatte, zum Arzt zu gehen, sobald sie wieder zu Hause war, und dann war sie umgekippt.
    Eines Morgens strickte sie, während ich schrieb und Linda mit John draußen war, nachdem sie die Kinder in den Kindergarten gebracht hatte. Als ich nach einer Weile zu ihr ging, um zu sehen, wie es ihr ging, fing sie aus heiterem Himmel an, über Vater zu sprechen. Sie meinte, sie habe immer wieder darüber nachgedacht, warum sie bei ihm geblieben sei, warum sie uns nicht mitgenommen und ihn verlassen habe, hatte sie sich wirklich nur nicht getraut? Vor ein paar Wochen habe sie mit einer Freundin darüber gesprochen, erklärte sie, und sich plötzlich sagen hören, sie habe ihn sehr gern gehabt. Jetzt sah sie mich an.
    »Ich habe ihn wirklich gern gehabt, Karl Ove. Ich habe ihn geliebt.«
    Das hatte sie noch nie gesagt. Nicht einmal ansatzweise. Ja, ich konnte mich nicht einmal erinnern, dass sie je zuvor ein Wort wie »lieben« in den Mund genommen hatte.
    Es war erschütternd.
    Was passiert hier, dachte ich. Was passiert hier? Denn um mich herum veränderte sich etwas. Geschah es in mir, so dass ich nun etwas sah, was ich vorher nicht gesehen hatte, oder ging es darum, dass ich etwas in Gang gesetzt hatte? Denn ich
sprach mit ihr und Yngve viel
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