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Lieben: Roman (German Edition)

Lieben: Roman (German Edition)

Titel: Lieben: Roman (German Edition)
Autoren: Karl Ove Knausgård
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sitzt, desto weniger tut es weh, wenn ich mich bewege.«
    »Okay«, sagte sie. »Wenn du es sagst.«
    Und dann zog sie hinter mir.
    »Aaaahh!«, sagte ich.
    »War das zu fest?«
    »Nein, das war gut«, erwiderte ich und drehte mich zu ihr um.
    »Es tut mir leid, dass ich vorhin sauer geworden bin«, sagte sie. »Aber es war einfach so eine furchtbare Zukunftsperspektive, die sich da plötzlich auftat, dass ich mich monatelang alleine um alles kümmern muss.«
    »Aber so wird es doch auch gar nicht sein«, sagte ich. »In ein paar Tagen kann ich die Kinder wie sonst holen und bringen, da bin ich mir sicher.«
    »Ich verstehe ja, dass es wehtut und du nichts dafür kannst. Aber ich bin einfach so erledigt.«
    »Das weiß ich. Aber das wird schon gehen. Das regelt sich alles.«
    Am Freitag war Linda so müde, dass ich die Mädchen mit John im Kindergarten abholen ging. Der Hinweg verlief unproblematisch, ich schob John mit der rechten Hand vor mir her, während ich möglichst vorsichtig hinter ihm ging. Der Rückweg gestaltete sich schwieriger. Da zerrte ich den Wagen mit John hinter mir her, während ich den verletzten linken Arm anlegte und den Doppelbuggy mit Vanja und Heidi irgendwie mit dem ganzen Körper vor mir herschob, wobei mich ab und zu stechender Schmerz durchzuckte, den ich nur durch kurze Ausrufe parieren konnte. Es muss ein seltsamer
Anblick gewesen sein, und folglich starrten uns die Leute auf der Straße auch an. Seltsam war zudem eine Erfahrung, die ich in diesen Wochen machte: Dass ich nicht heben oder tragen konnte und Probleme beim Hinsetzen und Aufstehen hatte, führte dazu, dass ich von einem Gefühl der Ohnmacht übermannt wurde, das weit über die körperlichen Beeinträchtigungen hinausging. Ich hatte plötzlich keine Macht in den Räumen, keine Kraft, und das Gefühl von Beherrschung, das ich bis dahin als selbstverständlich empfunden hatte, wurde sichtbar. Ich saß still, ich war passiv, und es kam mir vor, als hätte ich die Kontrolle über meine Umgebung verloren. Hieß dies, dass ich bisher immer das Gefühl hatte, sie zu kontrollieren und Macht über sie zu haben? Ja, so musste es gewesen sein. Diese Macht und Kontrolle musste ich nicht ausspielen, es reichte mir zu wissen, dass sie existierte, das prägte alles, was ich tat und dachte. Jetzt war sie fort, und ich erkannte es zum ersten Mal. Noch seltsamer war, dass für das Schreiben dasselbe galt. Auch ihm gegenüber hatte ich ein Gefühl von Macht und Kontrolle gehabt, das mit dem gebrochenen Schlüsselbein verschwand. Plötzlich war ich unter dem Text, plötzlich hatte er Macht über mich , und es gelang mir nur mit Hilfe der allergrößten Willensanstrengung, die fünf Seiten zu schreiben, die ich mir pro Tag als Ziel gesetzt hatte. Aber auch das ging. Ich hasste jede einzelne Silbe, hasste jedes Wort, jeden Satz, aber wenn mir nicht gefiel, was ich tat, hieß das noch lange nicht, dass ich nicht weitermachte. Ein Jahr, dann würde es vorbei sein, dann würde ich über etwas anderes schreiben können. Die Seiten füllten sich, die Geschichte schritt voran, und eines Tages kam ich zu einer anderen der Stellen, zu denen ich in den letzten zwanzig Jahren etwas in meinem Notizbuch festgehalten hatte, zu einer Party, die Vater in jenem Sommer für Freunde und Kollegen gegeben hatte, in dem ich sechzehn war. Das Fest war in der Spätsommerdunkelheit
eins geworden mit meiner großen Freude und mit Vater, der weinte, das Ganze war so voller Gefühle, es war ein so unmöglicher Abend gewesen, alles war in ihm konzentriert, und nun würde ich endlich darüber schreiben. Es war hart, diese Tür zu öffnen, hart, mich in diesem Raum aufzuhalten, aber ich packte auch diese Aufgabe auf diese neue Art an: egal, was kam, fünf Seiten täglich. Dann stand ich auf, schaltete den Computer aus, nahm den Müll mit, warf ihn im Keller in die Tonne und ging die Kinder holen. Das Grauen in meiner Brust verschwand, sobald sie auf dem Hof zu mir rannten. Es war eine Art Wettkampf zwischen ihnen zu sehen, wer am lautesten rief und mich am heftigsten umarmte. Wenn John bei mir war, lächelte er und juchzte, denn für ihn waren seine beiden Schwestern das größte. Sie breiteten ihr Leben um ihn herum aus, er saß da, saugte es auf und machte nach, was er tun konnte, und selbst Heidi, die manchmal immer noch so eifersüchtig auf ihn wurde, dass sie ihn kratzte, schubste oder schlug, wenn wir nicht mit Argusaugen auf sie aufpassten, machte ihm niemals Angst,
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