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Unzertrennlich

Unzertrennlich

Titel: Unzertrennlich
Autoren: Dora Heldt
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Prolog
    10. November
Hamburg
     
    44.Es war ein Witz. Christine beugte sich näher zum Spiegel und starrte sich in die Augen. Immer noch blau. Immer noch dieselben Augen, dieselben wie mit sechs, mit zwölf, mit zwanzig, mit dreißig. Sie kniff sie leicht zusammen. Da war der Unterschied. Falten. Der Halbkreis von Augenwinkel zu Augenwinkel, strahlenförmig und unnachgiebig. Christine hob die Augenbrauen. Die Falten blieben. 44.Sie atmete tief durch, griff zum Lidschatten und verteilte mit einem Pinsel silbergrauen Puder auf die Lider. Silbergrau gibt einen strahlenden Blick. Versprach zumindest der Hersteller. Die Falten waren unter den Augen, man musste also den Blick nach oben lenken. Nach dem Puder kam der Lidstrich. Wenigstens zitterten ihre Hände noch nicht. Seit 24Jahren zog Christine morgens Lidstriche. Sie stellte sich alle in einer durchgezogenen Linie vor und überlegte, ob sie sich schon einmal um die Welt gestrichelt hatte. Vermutlich schon. Als letzter Schritt wurden die Wimpern getuscht, jede Seite zweimal. Die meisten Frauen öffneten dabei den Mund, was völlig bescheuert aussah und keinen erkennbaren Grund hatte. Christine zwang sich dazu, die Lippen geschlossen zu halten, selbst wenn niemand sie beobachtete. Es war eine Frage der Disziplin. Sie trat vom Spiegel zurück und betrachtete sich prüfend. Die Haartönung war ein bisschen zu dunkel geraten, was sie blass machte, dafür wirkten die Augen blauer, was hoffentlich von den Falten ablenkte. Sie musste lachen, wie blöd war sie eigentlich? Eigentlich war es ihr egal.
    Als ihre Mutter 44 wurde, war Christine 21, ihr Bruder Georg 18, Ines, ihre Schwester, 14.Charlotte wurde 44 und bekam von ihren Kindern ein elektrisches Messer geschenkt. Mit drei Klingen. Kein Parfüm, keine Unterwäsche, nein, ein Haushaltsgerät. Christine bat sie im Stillen um Vergebung. Obwohl… war das Geschenk wirklich so daneben gewesen? Sie würde Charlotte fragen. Falls sie damals gekränkt war, hatte sie sich das zumindest nicht anmerken lassen. Vielleicht wird man als Mutter so. Dankbar und unkritisch.
    Das würde Christine in diesem Leben nicht mehr passieren, der Zug war abgefahren. 44, geschieden, keine Kinder, keine Haustiere. Beruflich erfolgreich. Privat eher mittelmäßig.
    Seit ihrer Scheidung hatte sie sich in den Job gestürzt. Sie arbeitete im Vertrieb eines großen Verlages, fing morgens um 8Uhr an, hörte abends um 19Uhr auf, ging einmal in der Woche zum Yoga, manchmal mit Kollegen essen und schrieb in ihrer Freizeit Kolumnen für ein Stadtmagazin. Alles war durchgeplant und übersichtlich. Und vor allen Dingen ruhig. Manchmal allerdings auch langweilig. Das kam ihr entgegen, sie mochte keine Überraschungen. Ihr Bruder Georg bezeichnete sie als Kontrollfreak, er hatte recht, sie behielt gern den Überblick über ihr Leben, sie hatte genug Zeiten erlebt, in denen sie sich den Rhythmus anderer zu eigen machen musste. Heute wurde sie 44.Heute wusste sie, was sie nicht mehr wollte.
    Die Türklingel unterbrach ihre Gedanken. Gleichzeitig wurde die Tür aufgeschlossen und Dorothea rief nach ihr. Sie waren seit Jahren eng befreundet und wohnten seit einiger Zeit in nebeneinander liegenden Wohnungen. Jede hatte den Schlüssel der anderen. Dass man klingelte, bevor man die Wohnung betrat, war ein stillschweigendes Übereinkommen. Ein Zeichen des Respekts vor der Privatsphäre der Freundin. Mehr nicht. Letztlich war die Zeitspanne zwischen Klingeln und Eintreten so knapp, dass Christine es nicht mal annähernd geschafft hätte, etwas Privates verschwinden zu lassen. Was auch immer das hätte sein sollen.
    »Ich bin gleich fertig, Dorothea, schenk dir doch einen Sekt ein. Steht im Kühlschrank.«
    Christine zog sich die Lippen nach und steckte den Lippenstift in die Handtasche. Dorothea stand im Mantel im Flur und sah sie erwartungsvoll an. Sie hatte ihr bereits am Morgen zum Geburtstag gratuliert, beide hatten noch schnell einen Kaffee bei Christine getrunken, in einer halben Stunde war ein Tisch beim Italiener bestellt, zehn Personen, Christines Geschwister, ein paar Kollegen und Freunde, wie immer.
    Christines Begeisterung für Geburtstage hielt sich in Grenzen, zumindest für ihre eigenen. Dorothea trug einen neuen Rock unter ihrem Mantel, grün, aus Samt, mit Spitze, dazu ein tief ausgeschnittenes Top. Christines Blick war ebenso überrascht wie der Blick, mit dem Dorothea Christine musterte. Dorothea reagierte schneller.
    »Sag mal, du hast Geburtstag,
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