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Liebe und Marillenknödel

Liebe und Marillenknödel

Titel: Liebe und Marillenknödel
Autoren: Emma Sternberg
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und durch die Bahnhofshalle, vorbei an Menschen, die hin- und hereilen, mit Rucksäcken oder Koffern oder einer unter den Arm geklemmten Tageszeitung, da erklingt plötzlich eine Stimme hinter mir.
    » Sophie?«
    Ich gehe schneller.
    » Sophie!«
    Ich gehe noch schneller, allerdings setzt mir mein Schuhwerk gewisse Grenzen.
    » Jetzt bleib doch mal stehen!«
    Ich habe das Gefühl, dass Nick mir nicht alleine nachrennt, aber ich könnte mich auch täuschen.
    » Sophie!«
    Seine Stimme wird barsch, und ich spüre, wie sich seine Hand grob auf meine Schulter legt. Unwillkürlich halte ich inne. Sein Griff ist so fest, dass ich nicht anders kann, als ihm zu gehorchen. Und dann passiert, was so oft passiert: Wenn einer stark ist, wird der andere schwach, ganz unwillkürlich. Ich spüre, wie sich meine Augen wieder röten und in meiner Kehle ein Kloß wächst, mit dem man eine Großfamilie satt kriegen würde.
    » Jetzt warte doch mal endlich«, sagt Nick, aber ich drehe mich nicht um. » Ich möchte dir jemanden vorstellen.«
    Meine Knie fangen an zu zittern. Ich muss jetzt ganz tapfer sein, sehr, sehr, sehr, sehr tapfer. Ich blinzle unaufhörlich und schlucke den Kloß hinunter. Es hilft ja nichts – früher oder später wäre dieser Moment sowieso gekommen.
    Langsam, ganz langsam drehe ich mich um.
    Da steht sie neben ihm, die Tussi, schlank und elegant, und besitzt die Dreistigkeit, mir mit ihren perfekten Zähnen ins Gesicht zu lächeln. Ihre Seidenbluse ist perfekt gebügelt, während meine fleckig ist von meinen Tränen.
    Nick lächelt nicht. Seine Hand liegt noch immer auf meiner Schulter.
    » Sophie, darf ich vorstellen? Das ist Annie, meine Schwester.«

32
    Es gibt drei verschiedene Wege, jemanden um Verzeihung zu bitten: durch Worte, durch Taten oder durch einen langen Blick. Nun, ich habe mich um Kopf und Kragen geredet, seit ich vorgestern Morgen am Bahnhof angekommen bin, und ich habe geguckt und geglotzt und geblinzelt – ohne Erfolg, leider. Was komisch ist, denn Nick hat meine Entschuldigung ungefähr drei Zehntelsekunden, nachdem ich sie zum ersten Mal ausgesprochen hatte, angenommen – wirklich und tatsächlich und aufrichtig.
    » Sophie«, hat er gesagt, » reg dich ab, es ist doch nichts passiert!« Und das stimmt natürlich, es ist nichts passiert.
    Aber es war so knapp.
    Ich schlüpfe in einen Kapuzenpulli und nehme die Chucks in die Hand. Leise, ganz leise, schließe ich hinter mir die Tür. Ich schleiche die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, auf Zehenspitzen, denn es ist noch furchtbar, furchtbar früh, und dass irgendjemand wegen mir aufwacht, ist das Letzte, was ich will. Ich öffne die Haustür, und zum ersten Mal fällt mir auf, dass sie in all den Wochen kein einziges Mal abgesperrt gewesen ist – so ist das Leben hier, denke ich, voller Vertrauen. Ich ziehe mir die Schuhe an und die Kapuze über den Kopf und setze mich auf die Bank vor dem Haus, von der aus man das ganze Tal überblickt.
    Ich bin so eine riesige Idiotin gewesen, und jetzt bin ich so unglaublich erleichtert, dass es dafür überhaupt keine Worte gibt. Und plötzlich verstehe ich auch, warum ich mich entschuldigt und entschuldigt und entschuldigt habe, ohne dass sich das Gefühl, das ich dabei hatte, veränderte – es ist gar keine Entschuldigung, die aus mir rauswill. Ich habe nur das Bedürfnis, ihm zu sagen, was vorgeht in mir.
    Ich ziehe die Beine an und umfasse meine Knie. Es ist kühl um diese Uhrzeit, und die Feuchtigkeit der Nacht scheint alles zu überziehen. Gegenüber stehen die Berge aufgereiht im grauen Morgenlicht, ich muss fast lächeln, als ich daran denke, wie sehr mir die blöden Dinger auf die Nerven gegangen sind, wie ich ihre Schroffheit mitunter kalt fand und furchtbar feindselig.
    Aber die Dinge verändern sich, und inzwischen sind mir ihre kantigen Linien vertraut wie Gesichter alter Freunde.
    Ich blicke den Weg hinab, dorthin, wo vor ein paar Tagen Papa wie ein Briefbeschwerer Herrn Jirgl am Boden festhielt. Die Wiese ist von Tau überzogen und glänzt silbern – und ausgerechnet jetzt stakst aus dem Wald ein Reh.
    Es bleibt mitten auf der Wiese stehen und fängt an, ein bisschen zu äsen, so völlig in sich versunken, wie das nur Tiere hinkriegen, wir Menschen nie.
    Diesmal werde ich es nicht vertreiben.
    Ich halte die Luft an und rühre mich nicht, doch schon nach ein paar Sekunden schießt sein Kopf in die Luft, die Ohren drehen sich nach links und rechts, und es verschwindet mit wenigen
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