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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman
Autoren: Edmondo de Amicis
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zog sie sich entweder ganz auf Schule und Pädagogik zurück wie in eine intellektuelle Klausur, um die Welt und ihre Versuchungen zu vergessen, oder sie warf sich mit ganzer Seele auf die Lektüre von Romanen. Im Gegensatz dazu herrschte im Zimmer der Pedani immer ein Durcheinander wie im Lagerraum eines Trödlers: wahllos hingeworfene Kleider, an Nägeln aufgehängt Turnblusen aus gestreiftem dunklem Stoff, in einer Ecke ein Jäger’scher Turnstab 12 , unter dem Bett zwei Paar Hanteln, vor dem Schrank Turnschuhe, und überall verstreut Ausgaben des «Nuovo Agone», des «Campo di Marte», der «Palestra di Padova», des «Gymnaste Belge» und anderer Zeitschriften dieser Art. Über dem Kopfende des Bettes hing an der Wand neben einem abgerissenen Schulkalender in Gold gerahmt ein Spruch in Schönschrift, den ihre Schülerinnen ihr geschenkt hatten, zwei Verse von Parini 13 :
    Was vermag nicht eine kühne Seele,
    wenn in kräftigen Gliedern sie lebt?
    Die Bibliothek, bestehend aus einem Haufen zerfledderter Bücher auf einem vollständig von einer Zeitung bedeckten Tisch, war eine rein auf die Gymnastik bezogene Sammlung von Leitfäden, Handbüchern, anatomischen Atlanten, von Literatur zur Gymnastik mit Musik, Abhandlungen über Hygiene, übers Schwimmen, übers Radfahren und von Publikationen des Alpenvereins, da ihre Leidenschaft für die Gymnastik sich auf ausnahmslos alle Disziplinen der physischen Ertüchtigung des Menschen erstreckte. Aber was ihrem Zimmer ein wirklich kurioses Aussehen verlieh, war die große Anzahl von Porträts, die meisten aus Illustrierten ausgeschnitten und an die Wand geklebt, wie im Laden eines Händlers für Drucke. Neben dem alles beherrschenden Baumann hingen da die verdientesten italienischen Turner: Gallo aus Venedig, Pizzarri aus Chioggia, Ravano aus Genua. Darüber Ravenstein 14 , der Nestor der deutschen Turner, Firmino Lampière, der «Dampfmann», eine Fotografie von Bargossi, ein Öldruck des Porträts der Ida Lewis 15 , die vom Kongress der Vereinigten Staaten mit der Goldmedaille ausgezeichnet worden war, weil sie Schiffbrüchigen das Leben gerettet hatte, und Dutzende mehr. Dieser merkwürdige Bazar diente ihr als Schlaf- und Studierzimmer und sogar als Turnsaal und Unterrichtsraum, denn hier machte sie jeden Tag gleich nach dem Aufstehen ihre Übungen und gab Einzelstunden. Und es war für beide auch ein zweites Wohnzimmer, denn wenn sie sich vertrugen, kam die Zibelli, angelockt von der Kuriosität dieses Durcheinanders, ständig herüber, um ein wenig mit der Freundin zu plaudern.
    Ebendort hielten sich beide auf. Es war sieben Uhr, sie hatten zu Abend gegessen, saßen an einem kleinen, von einer Petroleumlampe erhellten Tischchen, und die Pedani blätterte vor den Augen der Freundin, die ihr einen Arm um den Nacken gelegt hatte, «Gymnastik an den Ringen» von Doktor Orsolato durch, als die Pförtnerin kam und den Brief des Sekretärs brachte.
    Die Pedani bat sie ins Zimmer, um ihr noch einmal einzuschärfen, was sie ihr schon seit einem Monat erklärte, dass sie nämlich ihr Kind nicht länger quälen solle. Die Pförtnerin hatte eine Tochter, die, wie sie sagte, bucklig wurde, und hatte sich von einem Orthopädiewarenhändler in der Nachbarschaft überzeugen lassen, ihr ein Korsett mit Metallschienen anzulegen, das ihr, weil es den Brustkorb zu sehr einschnürte, wehtat, weshalb sie wie eine Besessene schrie. Die Pedani meinte, die Mutter solle dieses Gerät wegwerfen, da die Gefahr einer Lungenquetschung bestand, und ihr das Mädchen für eine Gymnastikbehandlung anvertrauen. Aber die Frau glaubte nicht an einen Erfolg. Und auch diesmal gab sie ihr wieder dieselbe Antwort wie immer: «Ach! Da ist anderes vonnöten als Ihre Gymnastik, Signora Maestra!»
    «Sie tun mir leid», antwortete ihr die Pedani.
    Als die Pförtnerin draußen war, warf sie einen Blick auf die Adresse des Briefs, deren Handschrift ihr unbekannt war. Die Zibelli stand auf, wie um sich zu entfernen, aber ihr zögernder Schritt ließ so wenig Lust dazu erkennen, dass die Pedani sagte, sie solle bleiben. Schließlich hatte sie vor niemandem Geheimnisse, weder vor ihr noch vor anderen.
    Als sie den Briefumschlag geöffnet hatte, warf sie einen Blick auf die Unterschrift und begann ohne irgendein Zeichen der Verwunderung zu lesen. Erst als sie fertig war, lächelte sie, schüttelte den Kopf, die Augen auf das Blatt geheftet, als riefe sie sich erst jetzt zum ersten Mal die verschiedenen Hinweise in
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