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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman
Autoren: Edmondo de Amicis
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nur jeweils sechs Wohnungen lagen, die meisten ziemlich klein, allesamt bewohnt von ruhigen Mietern. Am Treppenaufgang des Hausherrn lebte im ersten Stock Ingenieur Ginoni mit seiner Familie, zu der die Pedani Beziehungen pflegte, da sie Lehrerin einer der beiden Töchter war, die damals die «Scuola Margherita» besuchte. Im selben Stock wohnten zwei wohlhabende ältere Schwestern, ganz Kirche und Beichtstuhl und so züchtig, dass sie ihre Augen nie zum Gesicht eines Mannes erhoben, im Grunde aber herzensgut; sie grüßten die Pedani anfangs höflich und hörten dann auf, sie zu grüßen, nachdem sie auf dem Umweg über Bedienstete erfahren hatten, dass sie einen Kurs für angewandte Anatomie und Physiologie der Gymnastik besuchte, gehalten von Doktor Gamba. Im zweiten Stock, dem Commendatore gegenüber, wohnte ein alter Latein- und Griechischlehrer, ein gewisser Cavaliere 6 Padalocchi, verwitwet und pensioniert, ein schrecklicher Sprachkrittler, hieß es, aber mit tadellosen Manieren, der manchmal gemeinsam mit der Pedani die Treppe hinaufstieg, um ihr von seinen Beschwerden zu erzählen. Der dritte Stock war ganz geprägt von Schule und Gymnastik, und die beiden Wohnungen dort waren wegen des Lebens, das darin geführt wurde, bestimmt die merkwürdigsten im ganzen Haus: hauptsächlich die der beiden Lehrerinnen, deren große Unterschiede in Temperament und Lebensstil es seltsam erscheinen ließen, dass sie beschlossen hatten, zusammenzuwohnen. Die Zibelli war sechsunddreißig Jahre alt und bis ins Physische hinein das Gegenteil ihrer Freundin. Auch sie war groß, dabei jedoch mager und schmal in den Schultern; das Gesicht hübsch, aber zu klein geraten und schon verblüht. Ihr Körper schien nur im Umriss wohlproportioniert, was am Geschmack lag, mit dem sie sich kleidete; an der Art, wie sie die Füße vorwärtswarf, erkannte man jedoch, dass ihre Knie allzu unzertrennliche Freunde waren. Sie musste ein ziemlich nettes junges Ding gewesen sein, mit sehr schönem, kastanienbraunem Haar. Ihr Ruhm hatte sich darauf begründet, dass sie in der «Scuola Domenico Berti» einem jungen Physiklehrer den Kopf verdreht hatte, der errötete, wenn er sie nur ausfragte; aber der Ruhm war verblasst, und das Haar war dünn geworden. Die Verbitterung über das verlängerte Jungferndasein, für das sie nicht geschaffen war, hatte ihr an den Mundwinkeln zwei scharfe Falten beigebracht und ihren Augen etwas Trübes verliehen, was eine unzufriedene Seele verriet. Im Grunde ihres Wesens war sie gut geblieben, Reizbarkeit und Launenhaftigkeit verdarben sie jedoch. Mit der Pedani hatte sie Freundschaft geschlossen, als diese in ihren Schulbezirk versetzt worden war; sogleich war sie von der Zuneigung einer älteren Schwester zu diesem schönen, sich selbst und allen Haushaltsdingen gegenüber völlig gleichgültigen Mädchen erfasst worden, mit dem sie die Begeisterung für die Gymnastik teilte; und sie hatte sich ihr umso enger angeschlossen, als sie eine Regung von Eifersucht und Neid auf die üppige Schönheit der anderen durch Liebe in sich ersticken wollte. Deswegen hatte sie ihr sogar vorgeschlagen, eine gemeinsame Wohnung zu nehmen, und seit zwei Jahren lebten sie nun zusammen. Aber mit wachsender Vertrautheit wurde die schöne Harmonie bald getrübt. Die erste Unstimmigkeit war im Vorjahr anlässlich des großen Gymnastikkongresses in Turin entstanden, bei dem sich, als die Spaltung zwischen der obermannschen und der baumannschen Schule deutlich wurde, 7 die Pedani entschlossen der zweiten, kühneren Richtung zugewandt hatte und die Zibelli, wie es ihrer mehr femininen Wesensart entsprach, bei der ersten geblieben war. Dann waren andere Zwistigkeiten entstanden, aus schwerwiegenderen Gründen. Die Zibelli verliebte sich alle naslang, und mit unfasslicher Leichtigkeit glaubte sie ihre Neigung erwidert, aufgrund eines Blicks, einer freundlichen oder zweideutigen Bemerkung, aufgrund der geringsten Aufmerksamkeit eines Lehrers, eines Vorgesetzten oder eines Angehörigen einer ihrer Schülerinnen; und in diesen Strohfeuern der Fantasie sah sie zwischen sich und dem angenommenen Geliebten ihre schöne Freundin auftauchen – oder meinte zumindest, sie zu sehen –, die, vielleicht ohne es zu wollen, seine Aufmerksamkeit von ihrer Person ablenkte und auf die ihre zog, und das zu ihrem lebhaftesten Verdruss. Da folgten dann schlimme Zeiten, in denen sie sie nicht ertragen konnte und unter den fadenscheinigsten Vorwänden endlose
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