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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman
Autoren: Edmondo de Amicis
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imstande, die Geldscheine zu zählen, die sie ihm in einer Reihe auf die Kommode gelegt hatte. Seit jenem Tag war seine Leidenschaft nach und nach immer heftiger entbrannt. Kaum hatte er an ihrem Verhalten erkannt, dass sie einen starken und ruhigen Charakter besaß, der ihr, jeder Koketterie abhold, fast nicht wahrzunehmen gestattete, welchen Eindruck ihre Person auf andere machte, und der keinerlei Leichtsinn oder Launen erwarten ließ, steuerten seine Gedanken geradewegs und entschlossen auf die Hochzeit zu, als der einzig möglichen Art, zur Befriedigung seiner Wünsche zu gelangen. Trotz seiner Glut sah er allerdings die Schwierigkeiten voraus, die der Onkel berechtigterweise seiner Verheiratung mit einer alleinstehenden Lehrerin ohne Vermögen in den Weg legen würde. Aber in der Hoffnung, dass das Nein nicht kategorisch ausfiele, fühlte er sich zum Teil durch die Tatsache bestärkt, dass der Commendatore einer besonderen Leidenschaft zu frönen schien, der einzigen, von der er bei ihm wusste: einer äußerst aktiven Propagandatätigkeit zugunsten der pädagogischen Gymnastik, die er während seines kurzen Vizeassessorats im Schulwesen in jeder Weise gefördert hatte. Von der Propagandatätigkeit hatte er dann abgelassen, sich jedoch eine lebhafte und bleibende Sympathie für alle Arten der gymnastischen Darbietung bewahrt, sei es an Schulen, Seminaren, Pensionaten, Akademien oder bei Prüfungen, von denen er keine einzige versäumte, da er als einer der ersten und verdienstvollsten Gründer des Turnvereins von Turin zu allen eingeladen wurde. Ebendiese Sympathie für die Gymnastik hatte ihn veranlasst, den Mietzins für Maestro Fassi, den er vor vielen Jahren im Turnverein kennengelernt hatte, um ein Drittel herabzusetzen und eine ebensolche Vergünstigung der Signorina Pedani zu gewähren, Gymnastiklehrerin an verschiedenen Instituten, bekannt für ihre Tüchtigkeit als Lehrerin und für ihre temperamentvollen Artikel in Fachzeitschriften. Der Sekretär glaubte, dasselbe Gefühl, das ihn bewogen hatte, den Zins für die Mieterin herabzusetzen, werde auch den Widerstand gegen die Braut zum Schwinden bringen. Hier lag also nicht die schlimmste Schwierigkeit. Die schlimmste lag in dem Wagnis, ihr seine Leidenschaft offen zu bekunden; dem hatte sich seine unüberwindliche Schüchternheit seit nunmehr drei Monaten standhaft widersetzt. Deren Ursache war vor allem die große Unterlegenheit in Bezug auf die äußeren Vorzüge der Person, wie er stets feststellen musste, wenn er sich mit ihr verglich. Den Stundenplan ihres Unterrichts kannte er mittlerweile auswendig, und seit drei Monaten bemühte er sich jeden Tag und sogar mehrmals am Tag, im rechten Augenblick aus dem Haus zu gehen oder dorthin zurückzukehren, um ihr auf der Treppe zu begegnen und ihr sein Herz zu offenbaren. Hunderte Male war er ihr schon begegnet, doch er hatte nichts anderes herausgebracht als die gewöhnlichsten, abgeschmacktesten Phrasen. Und es nützte ihm nichts, dass er sich die Sätze vorher zurechtlegte, hastig zwei Gläschen Caluso 5 kippte oder aus dem Gefühl der Ehrbarkeit seiner Absichten Mut zu schöpfen suchte: Wenn er sich diesem großen, kräftigen Mädchen gegenübersah, ob sie nun eine Stufe höher oder tiefer stand als er – immer schien es ihm, als überrage sie ihn wie eine Kolossalstatue. Da fiel sein ganzer erkünstelter Wagemut in sich zusammen, und meist traute er sich dann nicht, den Blick von ihrer schönen Taille oder den herrlichen Schultern zu lösen und bis zum Gesicht zu erheben. Vielleicht hatte er noch gar nicht vermocht, sie seine Leidenschaft auch nur ahnen zu lassen, so ruhig und immer gleichbleibend war die knabenhafte Unbefangenheit, mit der sie ihn begrüßte und mit ihm sprach. So lebte er, seine Liebe wiederkäuend, dahin. Jeden Tag fügte er der unendlichen Sammlung von Haltungen, Stimmlagen, Gesten, unwillkürlichen Bewegungen der Person, die er im Kopf trug und immer wieder Revue passieren ließ, ein neues erregendes Bild hinzu; jedes betrachtete er für sich und kostete es aus, mit wachsender Wollust und Qual, die ihm keinen Frieden mehr ließen. Schließlich hatte er, da er es nicht mehr aushielt, den Brief geschrieben.
    Das Haus war wie geschaffen für die Machenschaften und die Heimlichkeiten einer Liebesleidenschaft. Es war eines der ältesten Häuser Turins, ein ehemaliges Kloster, hieß es: ohne Dachgeschoss, ohne Balkone zum Hof, mit zwei schlecht beleuchteten Treppenhäusern, an denen
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