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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman
Autoren: Edmondo de Amicis
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das Zimmer seines Onkels, Commendatore 3 Celzani, des Hausherrn, zu, um ihm die Mieteinnahmen aus seinem anderen Haus in der Via Vanchiglia abzuliefern und gleich darauf noch einmal den Brief zu lesen, der über sein Schicksal entscheiden sollte. Doch kurz bevor er die Tür erreichte, vernahm er aus dem Zimmer zwei Stimmen und blieb stehen; das Auge am Schlüsselloch, erblickte er in Gesellschaft des Hausherrn einen kleinen, fettleibigen Mann mit flächigem Gesicht – so bartlos und faltig wie das eines plötzlich gealterten und aufgedunsenen Knaben – und mit einer kleinen, schief sitzenden schwarzen Perücke, den er schon lange kannte. Es war der Oberschulrat der städtischen Schulen, den sein Weg ins Büro jeden Tag durch die Via San Francesco führte und der gelegentlich heraufkam, um dem Commendatore Guten Tag zu sagen, mit dem er acht Jahre zuvor, als dieser Aushilfsassessor im öffentlichen Schulwesen war, enge Freundschaft geschlossen hatte. Dennoch begann der Sekretär, allen gegenüber misstrauisch geworden, seitdem er diese Leidenschaft im Herzen trug, an der Tür zu horchen, weil er argwöhnte, sie könnten über ihn sprechen. Er beruhigte sich etwas, als er hörte, dass der Oberschulrat ganz nach seiner Gewohnheit von den großen und heiklen Problemen seines Amtes sprach, was die Lehrerinnen anbetraf.
    «Begreifen Sie», sagte er langsam und unter asthmatischem Keuchen, «sie geben Unterricht in Familien des Adels, sie sind bekannt mit Abgeordneten und Senatoren, einige von ihnen stehen auch in Verbindung zu hohen Beamten des Ministeriums. Da muss man vorsichtig vorgehen. Manchmal werden sie sogar von Seiner Majestät höchstpersönlich protegiert. Da setzt man sich leicht in die Nesseln. Dieses Amt, Sie wissen es selbst, verlangt einen Takt, ein Fingerspitzengefühl … wie es nur wenige besitzen. Es geht darum, einem Lehrkörper – von zweihundertfünfzig bis dreihundert jungen und reiferen Fräulein vorzustehen, verheiratet oder verwitwet, aus allen sozialen Schichten, und dazu einer Schar von Rektorinnen … Es wäre wohl leichter, mit den dreißig Prinzessinnen aus dem Hause Hohenzollern zurande zu kommen. Denken Sie nur, was für Sorgen sie mir bereiten, mit all ihren Liebschaften, Leiden, Hochzeiten, Hochzeitsreisen, Prüfungen, Geburten, Eifersüchteleien, Streitereien mit Vorgesetzten und Eltern … Glauben Sie mir, manchmal ist es zum Haareraufen.»
    Und so redete er weiter, ganz im Allgemeinen. Vollkommen beruhigt zog sich der Sekretär zurück und wartete. Sobald der Direktor gegangen war, trat er beim Onkel ein, der noch immer in seinen Hausmantel gehüllt im Sessel saß, die ernsten blauen Augen unverwandt auf das hohe Deckengewölbe gerichtet, wie in himmlische Betrachtungen versunken, und nachdem der Sekretär ihm Rechenschaft über sein Tun abgelegt hatte, zählte er die Banknoten auf das Tischchen. Der andere nickte zustimmend mit dem schönen weißen Haupt, ohne zu sprechen, wie es seine Art war, und den Blick wieder in die Luft gerichtet, hing er erneut seinen Gedanken nach. Da ging der Sekretär auf Zehenspitzen hinaus, trat in sein Zimmer, nahm aus einer verschlossenen Schatulle einen Brief, zwei Blätter, beidseitig in perfekter Schönschrift beschrieben, las ihn in tiefer Konzentration noch einmal durch, steckte ihn mit großer Umsicht in einen Umschlag, klebte mit viel Sorgfalt eine Briefmarke darauf, verließ geräuschlos das Haus, und an der Straßenecke angelangt, ließ er, nachdem er, den Brief in der erhobenen Hand, etwas unschlüssig vor dem Briefkasten stehen geblieben war, diesen hineingleiten. Dann atmete er ein Mal tief durch. Die Würfel waren gefallen. Jetzt konnte man nur noch auf Gott vertrauen.
    Der Sekretär Celzani hatte die dreißig nur um weniges überschritten, doch besaß er das gesetzte Auftreten und die Manieren eines Fünfzigjährigen, eine Erscheinung wie ein Notar in der Komödie oder wie ein Präzeptor im Haushalt eines geistlichen Würdenträgers. Als Kind verwaist, war er von einem Onkel mütterlicherseits, einem Dorfpfarrer, aufgenommen worden, der ihn in der Sakristei großzog und dann ins Seminar steckte, um ihn zum Priester zu machen. Nach dem Tod des Pfarrers, der ihm eine kleine Barschaft hinterließ, hatte ihn sein Onkel Celzani, ein kinderloser Witwer, aus dem Seminar geholt, in seinem Haus untergebracht und zu seinem Sekretär und Gutsverwalter gemacht: Aufgaben, die er mit wahrhaft vorbildlicher Rechtschaffenheit und ebensolchem Eifer
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