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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman
Autoren: Edmondo de Amicis
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den Sinn, die sie diesen Fall hätten vorhersehen lassen müssen.
    Von Neugier geplagt, von diesem Schweigen jedoch zurückgehalten, wagte die Zibelli keine Fragen zu stellen, verfolgte aber mit den Augen jede Bewegung der Pedani. Die stand auf, warf den Brief achtlos in die Schublade des Büchertischs, trat an den Schrank und nahm ihren Hut heraus. Die Zibelli erinnerte sich, dass die Freundin in den Alpenverein gehen wollte, um einen Vortrag der Fürstin Palazzi-Lavaggi über Bergbesteigungen von Frauen zu hören. Ihr kam eine Idee, aber um jeden Verdacht abzulenken, sagte sie lächelnd: «Ah! Du hast Geheimnisse.»
    «Das ist kein Geheimnis, ich erzähle es dir später», antwortete die Pedani gleichmütig und setzte sich nachlässig den Hut auf den Kopf.
    Scherzend begleitete die Zibelli sie bis zur Tür, vergewisserte sich, dass die Haushälterin in der Küche war, kehrte leise ins Zimmer der Freundin zurück, nahm den Brief aus der Schublade, warf einen Blick auf die Unterschrift und erbleichte. Dann las sie den Brief ganz durch und wurde von einem so heftigen Wutanfall erfasst, dass sie versucht war, alles ringsum kurz und klein zu schlagen. Auch den nahm sie ihr weg! Oh, dieses unselige Geschöpf! In diesem Moment hätte sie sie am liebsten mit Nadelstichen durchbohrt. Am meisten ärgerte sie, dass der Brief, obgleich darin von Ehe keine Rede war, am fast komischen Ernst jedes Satzes erkennen ließ, dass es sich nicht um eine leichthin gemachte Liebeserklärung zum Zweck bloßer Galanterie handelte, sondern dass es vielmehr ein oftmals überdachter und unter Mühen verfasster Brief war, der Erguss einer schon eine ganze Weile währenden Leidenschaft mit ernsthaften Absichten. Und sie hatte sich dermaßen täuschen können und beiden nur als Lückenbüßer gedient! Sie warf die Blätter in die Schublade, lief zwei- oder dreimal durchs Zimmer, als bekäme sie hier keine Luft; und weil sie ein Bedürfnis nach sofortiger Rache verspürte, brachte sie eilig ihr Haar in Ordnung, verließ die Wohnung, überquerte den Treppenabsatz und klopfte an der Tür von Maestro Fassi, wobei sie ihr Gesicht so gut es ging zu einem Lächeln verzog.
    Signora Fassi öffnete ihr mit jener finsteren Miene, die sie für den Empfang der Pedani aufgesetzt hatte. Als die Signora aber sie erblickte, wurde sie freundlicher und ließ sie in ein kleines Zimmer mit kahlen weißen Wänden eintreten, in dem vier Kinder rings um einen halb gedeckten Tisch ein Höllenspektakel veranstalteten. Die Zibelli wusste, dass sie an Signora Fassi eine verlässliche Verbündete gegen die Pedani hatte, da der Signora deren vertraulicher Umgang mit ihrem Mann mehr missfiel, als sie zugeben wollte. Sie war eine Frau um die vierzig mit enormem Busen, der die Bewegungsfreiheit ihrer Arme einschränkte, einem großen Mund mit ausgefransten Lippen und war zu Hause immer wie eine Köhlersfrau gekleidet. Um die Treppe im Haus hinunter- oder hinaufzugehen, brauchte sie eine Dreiviertelstunde, da sie mit jedem, der ihr begegnete, in weinerlichem Tonfall redete, insbesondere mit dem Sekretär, der über die Angelegenheiten sämtlicher Hausbewohner aus ihrem Mund Bescheid wusste. Sie war sehr eifersüchtig auf die stattlichen achtunddreißig Jahre ihres Mannes, und es schien, als hielte sie wer weiß wie viel von seiner Schönheit, die grobschlächtig war wie die eines Feldwebels und in nichts anderem bestand als in einer stolzen Haltung und einem dichten Schnurrbart, der ihm bis zu den Ohren reichte. Aber sie fürchtete ihn auch und wagte deshalb nicht, ihrer Rivalin gegenüber offen grob zu werden.
    Die Zibelli sagte, sie sei gekommen, um sich ein wenig zu zerstreuen, spielte die Fröhliche, streichelte die Kinder, schlenderte durchs Zimmer und wartete auf den geeigneten Augenblick. Der schien ihr gekommen, als Signora Fassi sie fragte, ob sie an diesem Abend allein zu Hause sei.
    «Ganz allein», antwortete sie. «Maria ist ausgegangen. Im Übrigen … jetzt beachtet sie mich gar nicht mehr. Sie hat ja jetzt ganz anderes im Kopf.»
    Als sie die Neugier der Fassi sah, konnte sie nicht mehr an sich halten und deutete ihr in erzwungen scherzhaftem Ton etwas von der Liebe des Sekretärs an, ohne den Brief zu erwähnen.
    Der anderen blieb der Mund offen stehen: Die Sache erschien ihr unglaublich. Dann sagte sie: «Woher wissen Sie das?»
    «Ich weiß es eben», antwortete die Lehrerin.
    «Aber … will er sie heiraten?»
    Die Maestra machte eine Handbewegung, wie um
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