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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten
Autoren: James Meek
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ältere Karin folgte seinem Blick. Sie verdrehte Kopf und Hals und betrachtete die großflächige Darstellung ihrer unsterblichen Frühzeit.
    »Sie gleicht mir mit jedem Tag weniger«, sagte sie.
    »Macht dir das was aus?«, fragte Ritchie.
    »Nein, aber dir.« Karin kniff sich in den Handrücken und ließ dann los. Ein Grat blieb einen Moment lang stehen, bevor sich die Haut wieder glättete. »Es ist bloß Haut«, sagte sie. »Mit meinem eigentlichen Ich hat das wenig zu tun. Wenn es ein Jenseits gäbe, würde ich da nicht mit dir als Einundzwanzigjährigem zusammen sein wollen, fürchte ich.«
    »Das schien schon damals nicht das wirkliche Du zu sein.« Ritchie ging zur Wand und strich mit dem Zeigefinger über den kleinen Bausch zwischen den Schenkeln der jungen Karin. Er hatte nicht anders gekonnt, als sich darin ein fantastisches Geheimnis vorzustellen, das er nicht zu fassen bekam, einerlei wie er grapschte.
    »Schon damals hattest du eine pornografische Fantasie. Du kannst so kalt sein«, sagte Karin.
    »Wie bitte? Ich versteh nicht, was du meinst.«
    »Das tust du nie.«
    »Alle in dieser Familie werfen mir vor, dass ich nichts verstehe, aber niemand in der Familie kann mir irgendwas erklären. Wie Dan heute. Warum muss er meine Gitarre nehmen, wenn wir ihm schon eine eigene gekauft haben?«
    »Weil es deine Gitarre ist. Er will keine eigene Gitarre, er will deine Gitarre. Er will in die Sendung. Er will Teil deiner Welt sein. Die Kids in der Schule sagen ständig zu ihm, wenn das die Sendung von deinem Dad ist, warum lässt er dich dann nicht auftreten?«
    »Er hat schon lange nicht mehr gefragt«, sagte Ritchie.
    »Du hast ihm erklärt, er wäre zu jung.«
    »Das stimmt ja auch.«
    »Und was das Wort ›Nepotismus‹ bedeutet.«
    »Also bitte!«
    »Und erzählst ihm ständig, dass du keinen Vater hattest, der dir hätte helfen können.«
    »Warum ist es für Dan so uninteressant, einen Großvater zu haben, der ermordet wurde? Wenn ich einen Großvater gehabt hätte, der ermordet wurde, hätte ich das cool gefunden. Ich hätte ständig darüber geredet.«
    »Du redest ständig darüber. Und dein Vater wurde nicht ermordet. Er wurde exekutiert. Im Krieg. Er war Soldat.«
    »Wenn das Krieg war«, sagte Ritchie, »dann ist alles Krieg.«
    Als er zwei Stunden später nach London aufbrach, fragte Karin, warum die Arbeit so häufig sein Wochenende zerhacke. »Ich hoffe, du fickst nicht mit einer andern«, sagte sie.
    Ritchie lächelte. »Wenn ich nicht bei diesen Sonntagabendsitzungen dabei bin, schwingt niemand die Peitsche, das weißt du doch. Es gibt keine andere«, sagte er. »Ich habe versprochen, es nicht wieder zu tun, und das halte ich auch. Das musst du mir glauben.«
    Ritchie fand es das Letzte, dass Leute logen, um sich selbst zu schützen. Er log nur, um seine Familie zu schützen. Es gefiel ihm gut, wie ein paar falsche Worte seine Frau, seine Kinder und seine friedliche, gedeihliche Zukunft mit ihnen in diesem Haus vor den Dingen abschirmten, die er in London mit Nicole trieb.
    »Ich kriege dich kaum mehr zu sehen«, sagte Karin.
    »Du siehst mich ständig«, sagte Ritchie. Er wusste, dass sie es anders gemeint hatte, aber er hoffte, dass sein bewusstes Missverständnis sie davon abhielt, ihm zu erklären, wie. Er lächelte zaghaft, und sein Gesicht nahm einen sehnenden Ausdruck an.
    »Nimm dich in Acht«, sagte Karin. »Wenn ich rauskriege, dass du lügst, werden die Anwälte über dieses Haus herfallen wie …«, ihr linker Mundwinkel ging auf eine Weise nach oben, die Ritchie liebte, »… Wikinger über ein Kloster.«
    »Es gibt keinen Grund zur Sorge«, sagte Ritchie. »Ich betrüge dich nicht.« Taktvoll, dachte er, sparsam: weniger als hundert falsche Wörter am Tag, und er sorgte dafür, dass seine Familie sicher war.
    5
    Für seine Tête-à-Têtes mit Nicole hatte Ritchie eine Wohnung in einer Sackgasse in Limehouse gekauft, in der vierten Etage eines neuen Wohnblocks. Er fand einen Parkplatz in der Nähe, und als er am Autoschlüssel auf »Lock« drückte und die Lichter aufblinkten, kam ihm das ordinär vor, wie eine Aufforderung an Passanten, bei seinen schmutzigen Spielen oben in der Wohnung mitzumachen. Aber es waren nie Passanten auf der Straße. Obwohl abends die Fenster erleuchtet waren und die Häuser bewohnt wirkten. Einmal sah er auf einem Fensterbrett einen Kaktus, der in der Woche davor noch nicht dort gestanden hatte. Aber außer dem Makler, der ihm die Wohnung gezeigt hatte,
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