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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten
Autoren: James Meek
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hatte er sonst noch keine Menschenseele zu Fuß gesehen.
    Karin hatte er erzählt, er brauche eine Absteige für die Tage, an denen er abends lang arbeiten und morgens früh wieder losmusste. Sie hatte ihn einiges gekostet, obwohl die Decken der Wohnungen niedrig waren, die Zimmer knapp bemessen und die Fenster klein. Vor dem größten Fenster war mit etwas Abstand ein Metallgeländer angebracht. Der Makler hatte es als »französischen Balkon « bezeichnet. Es sah aus wie ein Schutzgitter gegen das Eindringen des Pöbels.
    Er hatte monatelang in der Küche Kaffeebohnen gemahlen und sich mit einer Espressokanne Kaffee gekocht, doch der Geruch wollte einfach nicht einziehen, und wenn er die Tür aufmachte, roch die Wohnung immer noch unbewohnt. Er sah Nicoles nackten Fuß mit dem Goldkettchen um die Fessel am Ende des Flurs um die Ecke verschwinden. Sie spielte gern mit ihm, wenn er kam. Huschte wie ein Kätzchen durch die Wohnung, mit flink trippelnden Füßen, und verharrte dann still irgendwo. Er hörte sie singen oder das leise Klingeln ihrer Armreifen. Manchmal ging er den Geräuschen nach, wie um sie zu jagen, und fand sie dann auf dem Bett oder in der Küche am Tresen lehnend, die Hände auf dem Rücken, ein nacktes Knie seiner Hand entgegengestreckt, und ihm in die Augen schauend, während er ihr den Rock hochschob.
    Er stand im Flur und hörte, wie Nicole Türen und Schubladen knallte. Der Fernseher lief, leise zwar, doch er erkannte die Sendung an der Stimme des irischen Showmasters, dessen blökende Vokale durch das Gelächter des Publikums drangen.
    Ich sollte jetzt Schluss machen, dachte Ritchie. Ihre fremde Anwesenheit in seinen vier Wänden erregte, erschreckte und verunsicherte ihn wie von Anfang an. Er erinnerte sich gut an den Moment, als er innerlich von dem Gedanken, dass er sie nicht haben konnte, umgeschwenkt war auf den Gedanken, dass sie ihm gehörte, wenn er wollte.
    Nicoles Augen erinnerten Ritchie an seinen früheren Mitschüler Barney Parks, der dank eines Stipendiums auf der Privatschule gewesen war. Ritchie, Jules und Randeep konnten Barney Parks nicht einfach vorbeigehen lassen, wenn sie ihn in einem alten Blazer sahen, der ihm viel zu groß war. Respekt vor Barney Parks, es auf eine Schule zu schaffen, die sich seine Eltern nicht leisten konnten, aber man musste ihm beibringen, was es hieß, in der Öffentlichkeit lächerlich auszusehen. Die Lehrer erteilten ihre Lektionen und die Jungen genauso. Sie versperrten ihm den Weg, und Ritchie und Randeep hielten ihn fest, während Jules hinter ihn trat, den Blazer lüftete und seine Arme zusätzlich in die Ärmel schob, um zu demonstrieren, dass zwei Jungen darin Platz hatten. Das Dumme an solchen Aktionen war, dass Ritchie darunter litt, wenn das Opfer nicht einfach darüber lachen konnte, und da er sicher wusste, dass er gut war, konnte das nicht seine Schuld sein. Offensichtlich war die Welt voll von egoistischen Opfern, denen man mit ein bisschen Mobben beibringen musste, ihre Bestrafung stilvoller entgegenzunehmen.
    Barney Parks lachte nicht. Barney Parks wehrte sich. Er war drahtig, und Ritchie musste fest zupacken. Beim Anblick des Widerstands in Barney Parks’ starren, dunklen Augen, feucht von zurückgehaltenen Tränen, schoss Ritchie das Blut in den Kopf, und sein Gesicht brannte. Es war kein richtiger Widerstand. Barney Parks wollte, dass sie ihm das antaten. Barney Parks sagte nie etwas, er sah Ritchie nur direkt in die Augen. Sein Blick sagte, dass er angegriffen werden wollte, denn je heftiger sie mit ihm rangen, umso weniger würde er nachgeben; dass es einen Kern der Unangreifbarkeit und Eigenheit gab, den sie suchten, ohne es zu wissen – und wenn sie ihn noch so sehr verbogen und verdrehten und schließlich sogar zum Weinen brachten, zu diesem Kern würde er sie niemals vordringen lassen. Das zwang sie, es immer wieder zu versuchen, und das war es, was Barney Parks wollte. Ritchie geriet mächtig ins Schnaufen, ließ Barney Parks los, zog die rechte Faust zurück, schlug Barney Parks ins Gesicht und lief davon. Ritchie war damals zwölf gewesen. Barney Parks musste neun gewesen sein. Bei Nicole fühlte Ritchie dieselbe unechte Gegenwehr, denselben unechten Widerstand, aber er musste sie nicht schlagen. Er wusste, was er tun und wie er sie ansehen musste.
    Ritchie machte ein paar Schritte. Er rief Nicoles Namen. Der Magen drückte ihn. Ich hätte die Mirabellen nicht essen sollen, dachte er. Nicole kam aus der Tür und ging
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