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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten
Autoren: James Meek
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gewann, verlor man an Stringenz. Mit der Zeit hatte sie sich mehr auf Zuri und Alex verlassen. Sie hatte angefangen, über eine Ganztagsnanny nachzudenken.
    Die Herstellung des Haemoproteus-Impfstoffes kam immer noch nur schleppend voran, wie auch die der anderen Malaria-Impfstoffe, die keinen Komplettschutz bewirkten, aber vielleicht ja in Verbindung mit anderen. Jetzt, da sie ein eigenes Kind in Tansania hatte, erschien es ihr nicht mehr so einleuchtend, dass ein lebender Parasit sein bester Schutz wäre. Sie erinnerte sich an Ritchies Worte: »Sie werden sich in Afrika nicht bei dir bedanken, wenn du die Malaria heilst und alle Kinder dann Brillen mit flaschenglasdicken Gläsern tragen und gegen Bäume laufen.«
    Sie hatte ihren Bruder seit dem Tag auf dem Friedhof vor fast drei Jahren nicht mehr gesprochen. Ihre Mutter war ihr böse gewesen, weil sie nicht betroffen genug wirkte, als Ritchie sich von Karin trennte. Ritchie hatte eine Zeit lang angerufen und gemailt und um Vergebung gebeten, und Bec hatte nicht reagiert. In seiner letzten Nachricht hatte er ihr mitgeteilt, dass O’Donabháin an Herzversagen gestorben sei, im Schlaf.
    In Nordirland hatte ihr Vater, war ihr einmal erzählt worden, mit seinem Netzwerk am Rand der militärischen Kontrolle operiert, und nach den Aufzeichnungen, die er hinterlassen hatte, war es nicht möglich gewesen, die Identität des Informanten zu bestimmen, dessen Leben er mit seinem Schweigen unter der Folter gerettet hatte. Bei seinem Prozess behauptete O’Donabháin, er habe später auf anderem Wege herausbekommen, wer der Verräter gewesen war, und bald nach dem Tod ihres Vaters habe er dessen Ermordung befohlen. Es gab eine Leiche; es gab einen Namen. Das Schweigen ihres Vaters hatte dem Informanten das Leben um ein paar Wochen verlängert.
    Nach seinem Besuch bei O’Donabháin in Dublin, als er noch versucht hatte, sie zur Einwilligung in seinen Film zu überreden, hatte Ritchie Bec berichtet, was der alte Kämpfer gesagt hatte, und sie war von O’Donabháins knurriger Anerkennung des Muts ihres Vaters erstaunt und gerührt gewesen. »Dass er den verdammten Helden spielen musste«, hatte er gesagt.
    Es kam Bec so vor, als hätte sie versucht, auch so etwas wie eine Heldin zu sein, eine wie ihr Vater, um an den Gewissheiten zu partizipieren, nach denen er lebte. Sie hatte mit aller Kraft nach den Wurzeln der Güte gesucht, die der Welt Bestand gab. Sie war bereit gewesen, sich stützen und einschränken zu lassen. Sie hatte sich nach einem moralischen Fundament gesehnt, aber sie hatte keines gefunden.
    Hatten die Zweifel erst nach Leos Geburt eingesetzt oder schon früher, als sie sich in Alex verliebt hatte? Und waren ihr die Zweifel an der Wahrheit dessen, was O’Donabháin Ritchie erzählt hatte, einfach so gekommen, oder wollte sie gern eine andere Version der Ereignisse haben, als sie erkannte, dass es in der Tat eine Grenze gab und dass es kein Weltgesetz von Gut und Böse war, was sie einschränkte, sondern die Bedürfnisse der Menschen, die sie liebte?
    Sie hatte so stark an ihren Vater geglaubt, den Helden, der sein Leben geopfert hatte, damit ein anderer Mann weiterleben konnte. Und auf einmal merkte sie, dass sie etwas anderes glauben wollte. Sie stellte sich vor, wie er blutend und zerschlagen auf dem Stuhl im Bauernhaus saß und zu dem vermummten O’Donabháin aufblickte, der ihn anbrüllte, während die beiden anderen maskierten IRA -Kämpfer mit der Waffe im Anschlag dastanden. Sie stellte sich vor, er hätte gleich zu Anfang O’Donabháins Stimme erkannt, und sie wollte glauben, dass ihm irgendwann aufging, dass sich O’Donabháin keineswegs, wie er gedacht hatte, mit der Absicht trug, ihm irgendwie zur Freiheit zu verhelfen.
    Sie wollte glauben, dass ihr Vater in dem Moment beschloss, den Namen des Verräters zu nennen, nicht weil er ein Feigling war, sondern weil er Frau und Kinder hatte. Sie wollte glauben, dass er an sie, Bec, dachte und dass sie ihm wichtiger war als die Rettung des Informanten. Sie wollte glauben, dass O’Donabháin abermals schrie: »Wer ist es?«, und dass ihr Vater den geschwollenen Mund öffnete und zum »D« ansetzte. Und sie wollte glauben, dass O’Donabháin ihn erschossen hatte, da und deshalb, bevor er das Wort »Du« aussprechen konnte, weil der Verräter O’Donabháin war.
    Bec sah Alex mit einer Handvoll kalter Flaschen zurückkommen, hoffnungsvoll, zerstreut, liebevoll, wie er es im Dorf mit den Impfstoffen
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