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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten
Autoren: James Meek
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Hintergrundmusik verlosch, und das Karaoke begann. Einer der Cross-Dresser kam als Erster dran; er gab eine passable heisere Version von Charlenes I’ve Never Been To Me zum Besten. Die drei Mädchen traten zusammen auf und verhackstückten einen Song einer TV -geklonten Fünferformation aus dem vorigen Jahrzehnt; Tom legte einen hervorragenden Auftritt mit einem Roy-Orbison-Hit hin; dann betrat die Zombiefrau die Bühne. Nach den ersten zwei Tönen des Intros wusste Ritchie, was sie singen würde. Er wollte sofort gehen, und er wollte bleiben und es hören. Er blieb, und die Version der Zombiefrau von You Lead Me On von Karin and The What war lahm und flach.
    Ritchie war noch nie auf den Gedanken gekommen, dass seine bedingungslose Liebe zur Musik eine Eigenschaft war, für die man ihm vieles verzieh. Ein paar Wochen nach ihrer Trennung war Karins Stimme mit diesem Lied überall zu hören gewesen. Leute, die Ritchie kannten, konnten die Versessenheit nicht verstehen, mit der er es wieder und wieder hörte, ihnen erklärte, wie es musikalisch funktionierte, lauthals verkündete, die Jungs von The What verstünden ihr Handwerk wirklich, Anerkennung für seine Behauptung verlangte, Karin sei eine der großen Popsängerinnen ihrer Zeit. Er liebte das Lied, und es freute ihn, dass Karin ihm etwas Neues geschenkt hatte, etwas Neues von diesem nie ganz erreichbaren Teil von ihr, den er immer hatte haben wollen. Und jetzt kam eine als Leiche aufgemachte Frau und schlachtete es. Ritchie wandte sich von der Bühne ab und sagte zu dem Mädchen hinter der Theke: »Die bringt’s nicht, was?«
    »Wie bitte?«, sagte das Mädchen, das gerade dabei war, Coke aus einem Schlauch in hohe Gläser zu spritzen.
    »Ich sagte, sie bringt es nicht, mit dem Lied.«
    »Ich fand’s ganz okay.«
    Tom tippte Ritchie auf die Schulter und meinte, er sei dran. Ritchie knöpfte sein Jackett zu, überprüfte den Kragen und ging nach vorn. Der Mann am Karaokegerät suchte mit dem Finger auf seiner handgeschriebenen Liste.
    » Angels «, sagte er. Er blickte Ritchie in die Augen, erfahren und freundlich. »Kriegst du das wirklich hin?«
    Der alte Ritchie, dachte der neue Ritchie, hätte möglicherweise die Fassung verloren. Stattdessen überlegte er: Ob er wohl heute Abend diesen sprunghaften Höhenwechsel von Strophe zu Refrain hinbekam? And through it ALL … Es war so ein abrupter Sprung vom ungezwungenen Bariton in die hohen Tenorlagen, bei dem er durchaus verhungern konnte, wenn seine Stimmwerkzeuge nicht in absoluter Topform waren, und der Karaokemann machte ihn netterweise darauf aufmerksam. »Ist es zu spät, noch mal umzudisponieren?«, fragte er.
    »Kommt drauf an.«
    »Hast du Fountain von den Lazygods?«
    Ritchie trat zurück und sah die paar Dutzend Leute im Pub an. Er hatte das Mikro in der Rechten, und als die ersten gedämpften D-Dur-Akkorde ertönten, griff er mit der Linken ins Leere, denn der Mikrofonständer war mit dem drahtlosen Zeitalter obsolet geworden. D ging in G über, dann in A, und während Schlagzeug, Bass und Synthesizer im goldenen Glanz der Musik erstrahlten, kam es Ritchie vor, als flögen Wände und Dach des Pubs davon und als wiegten sich unter ihm Zehntausende von Gesichtern wie ein Feld menschlicher Blumen im Wind. Er konnte Karin neben sich fühlen, sein prachtvolles, schönes Mädel, wie sie mit dem Plektron die Saiten anschlug und sie alle auf dem schäumenden Fluss der Elektromusik in die herrliche paradiesische Verdammnis mitriss. Er sang:
    Sunrise
    Is only an hour away
    And your eyes
    Are brighter than any day
    And the path is leading on
    In the blue light of dawn
    To the forest
    And the ocean
    And the life-love in our veins
    Sie gingen mit ihm mit, die Massen, alle zwanzigtausend, die Massen und die Band, Karin, Johnny P und The Bat, und sie schwangen sich auf zum Refrain und hoben ab, und das Beste kam überhaupt erst noch.
    Let’s all go to the fountain
    And drink the years away
    Cold water
    Clear water
    To keep the night at bay
    Let’s all go to the fountain
    And you and I will be
    Forever young!
    Ritchie brüllte den Text mit dem Korb des Mikros an den Lippen, die Augen fest geschlossen trotz der hervorquellenden Tränen, und während er seine ganzen alten Bühnenverrenkungen machte, fühlte er den Widerstand und die Steife seines vierundvierzigjährigen Körpers als vorübergehende katerähnliche Schwäche, über die er hinwegsingen würde.
    Heartstrings
    Are what you most like to play
    And some
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