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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
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die
aktuellen weltpolitischen Konstellationen
geklärt werden. Danach warnt uns Onkel Lajos – obgleich er vor Kurzem von zwei ehemaligen Mitgefangenen eingeladen wurde, an einer Schattenregierung teilzunehmen – vor übermäßigem Optimismus.
    Irgendwann sind die Feiertage vorbei, und der Baum fängt an auszutrocknen. Es gibt keinen Kamin, in dem man ihn verbrennen könnte, und auf die Straße darf er nicht gestellt werden. Vielleicht bleibt er bis zum Frühjahr in der Wohnung stehen, bis Onkel Lajos eines schönen Tages (jedoch auf jeden Fall noch vor Ostern!) Lederhandschuhe anzieht, um die restlichen Nadeln vom bis dahin völlig vertrockneten Baum zu streifen, diese werden von Tante Judit in zwei großen Plastiktüten gesammelt, und dann gehen die beiden auf die Freiheitsbrücke. Sie stellen sich auf die Mitte der Brücke, von wo aus Onkel Lajos den nackten Baum ins Wasser wirft, und Tante Judit die Nadeln hinterherschüttet. Dann machen sich Baum und Nadeln auf den Weg. Vorne schwimmt der Baum, hinter ihm die Nadeln als grüner Teppich auf dem Wasser. Der Abschlussteil der Zeremonie besteht darin, dem Familienweihnachtsbaum so lange hinterherzublicken, bis er unter der Petőfi-Brücke verschwindet. Wenn ihn das Feuer schon nicht verschlingen kann, soll ihn das Wasser forttragen. Wenn es Vater gut geht, nehmen er und Mutter auch daran teil, und wenn wir Zeit haben, werden Gerda und ich ebenfalls auf der Brücke stehen. Erika wird mit Sicherheit nicht dabei sein, denn Balázs ist noch zu klein, um zu erfahren, wie Weihnachten zu Ende geht.
    „Auf die Straße kommt er nicht“, antwortete ich entschieden. „Das ist ganz sicher.“
    „Dann ist ja gut.“
    Das Schloss des Eingangstors fehlte seit Jahren. Man konnte das Tor einfach aufstoßen.
    „Sei brav“, sagte Schwesterchen als Abschied zu der Tanne. „Meine vier Meter lange, perfekte Tanne.“
    „Nur drei.“
    Bis in die zweite Etage trug ich sie allein hinauf. Ich fand sogar für den Tesafilm Verwendung, den Mutter mir gegeben hatte, um das Leichentuch auf John Torringtons Bild zurückzukleben: Ich klebte einen Zettel zwischen die Zweige, auf dem stand, dass diese Tanne Lajos und Judit Krizsáns Eigentum sei. Ich lehnte sie neben der Tür an die Wand, wollte aber nicht klingeln, obwohl ich von der Straße aus gesehen hatte, dass das Licht brannte. Onkel Lajos ging spät ins Bett. Ich wollte mir jedoch nicht jahrelang anhören müssen, was für eine Fahne ich gehabt habe.
    „Wohin geht ihr nun?“, fragte Schwesterchen fröhlich, nachdem ich zurückgekommen war.
    Gábor sah mich an. Er wollte mir die Möglichkeit lassen, mich zu entscheiden. Das Problem wurde jedoch von Schwesterchen gelöst.
    „Du musst mich nicht begleiten“, sagte sie an mich gewandt.
    „Dann gehen wir nach Nyék!“, erwiderte Gábor.
    So trennten sich unsere Wege. Gábor und ich wollten zu Fuß nach Nyék gehen. Vor der Brücke blieben wir stehen und blickten Schwesterchen hinterher.
    „Wir hätten mitgehen müssen“, sagte Gábor, da ihn ein mulmiges Gefühl beschlich. „Sie hatte zu gute Laune.“
    Damals hätte man jedoch noch nicht mit ihr gehen müssen.
    Den Abend, an dem es Schwesterchen endlich gelang, werde ich niemals vergessen. Es geschah Monate später, bereits im Frühsommer. Eine Lehre aus den früheren erfolglosen Versuchen ziehend, schluckte sie Pillen, viele Pillen, und machte es nicht zu Hause, da sie nicht von ihrer Mutter gefunden werden wollte. Sie legte sich im Tabán ins Gras. Dort wurde sie von Leuten, die früh am Morgen mit ihrem Hund spazieren gingen, entdeckt. Der Rettungsarzt, der gerufen wurde, konnte nur noch den Tod feststellen. Sie hinterließ keinen Abschiedsbrief, hatte jedoch den Personalausweis dabei. Keine Übertreibung, kein Fehler. Sie wurde zu einer präzisen, grauen, kleinen Selbstmörderin der großen Geschichte des Selbstmords.
    Ich erfuhr am Ende des Sommers, was mit ihr passiert war. Gábor und ich arbeiteten zu dem Zeitpunkt schon lange nicht mehr in der Bibliothek, nach der Sommerschließzeit gingen wir jedoch gemeinsam in den Palast, um uns endgültig zu verabschieden.
    „Mach dir keine Vorwürfe, Schätzchen, das war eine Krankheit bei ihr, Depchession.“
    Zu Hause versuchte ich mich dann daran zurückzuerinnern, was ich in der Nacht gemacht hatte, in der Schwesterchen starb. Ich hatte mich mit Ludwig XIV., dem Sonnenkönig, beschäftigt. Ich bereitete mich für die mündliche Aufnahmeprüfung an der Universität vor. Ich
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