Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
Vom Netzwerk:
zehn erreichen wollen. Nun war es jedoch schon egal.
    Gábor und ich kannten uns seit Mittag und hatten am Abend die erste Phase unserer Freundschaft schon hinter uns. Er kannte meine Fehler und war sie ziemlich leid. Er erzog mich bereits.
    Dank ihm hatte ich mir bis zum Abend das Rauchen angewöhnt, und beinah hätte er mich glauben gemacht, dass die Staatliche Korvin Bibliothek samt der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (UAW) und dem Institut für Herausgabe von Enzyklopädien (IHE) ohne ihn funktionsunfähig wäre. Er kontrollierte den Freihandbereich des kleinen Lesesaals. Lief durch die Regalreihen, stellte die Bücher ordentlich an ihren Platz. Rückte die Stühle an die Tische. Das gehörte zwar zu seinem Aufgabenbereich, aber er wäre von niemandem zur Rechenschaft gezogen worden, hätte er es einmal versäumt. Er benahm sich, als hätten die digitalen Uhren nicht gerade die Mitte des 21. Jahrhunderts angezeigt (20:58), ein Jahr, in dem unsere Generation so gut wie ausgestorben sein wird.
    Ich hatte verstanden. Er schindete Zeit. Wollte nicht zu früh auf dem Hof sein. Wegen seines Freundes. Deshalb schickte er mich vor. Weil er ihm grollte.
    Die
Großen
waren die
Großen
der Bibliothek. Sie waren zu viert, jedoch fünf Personen wert. Der hochbetagte Heltai war der Ady-Forscher. Er hatte Ady auf dem Sterbebett gesehen. Der betagte Misztóthy war der Kosztolányi-Forscher. Er hatte Kosztolányi auf dem Sterbebett gesehen. Der alte Rimányi Junior war der Babits-Forscher. Er hatte Babits auf dem Sterbebett gesehen. Onkel Olbach war der Dezső-SzabóForscher. Dezső Szabó hatte kein Sterbebett gehabt, er hatte wie ein Hund geendet. In einem Straßengraben. Onkel Olbach hatte ihn dort gesehen.
    Gábor bedeutete mir von der anderen Seite des Saals, nicht mehr in der Tür herumzustehen, sondern mich auf den Hof zu scheren. Wo minus fünfzehn Grad herrschten. Ich provozierte ihn nicht weiter. Ich überquerte die unsichtbare Demarkationslinie, die den kleinen Lesesaal und den großen Lesesaal, also die Fachbibliothek des IHE von den anderen Räumen der Korvin Bibliothek trennte. (Respekt dem Leser, der die beiden Einrichtungen voneinander unterscheiden kann!)
    Sie teilten sich auch den Haupteingang. Einundzwanzig Uhr neun (21:09), also von jetzt an gezählt in mehr als hundertzwanzig Jahren, ging das Eingangstor dröhnend hinter mir zu.
    Im Hof angekommen legte ich mich auf die Lauer. Der Dienstwagen der Bibliothek stand vor dem Haupteingang. Seit dem späten Nachmittag. Demnach war die Feier immer noch im Gange.
    Gemeinsam ergaben die vier
Großen
noch eine fünfte Person, und zwar einen Béla-Hamvas-Forscher. Alle hatten Béla Hamvas gekannt und geschätzt. Böse Bibliothekszungen behaupteten, die
Großen
hätten seinen Lebensweg in dem Maße, in dem es ihre bescheidenen Mittel erlaubten, auch ein wenig geebnet, was angesichts der Internierung und aller anderen Qualen, die der große Denker hatte erleiden müssen, sowie des bis übers Grab hinausgehenden Schweigens über sein Werk, eine ziemlich gehässige Formulierung war. Bis zu diesem Tag war auch Gábor eine dieser bösen Zungen gewesen, aber er hatte am Vormittag flüchtige Nachforschungen über die
Großen
angestellt und alle Anklagepunkte fallen gelassen.
    Zu der Feier waren viele der alten Bibliotheksmitarbeiter erschienen. Auch die
Großen
. Bis zum frühen Abend hatte sich in der Bibliothek die Nachricht verbreitet, die Schattenregierung sei gegründet worden. Das war zwar nicht wahrscheinlich, aber man konnte ja nie wissen. Die alten Bibliotheksleute waren jedoch mit Sicherheit schon nach Hause gegangen.
    Gábor kam, wie er es geplant hatte, genau zehn Minuten nach Bibliotheksschluss aus dem Personal eingang und gesellte sich zu mir. Er schaute auf seine Uhr.
    „Nichts?“
    „Nichts.“
    „Licht?“
    „Das brennt. Würdest du mich sehr hassen, wenn ich jetzt nach Hause ginge?“
    „Ja. Aber nicht nur ich.“ Er deutete in Richtung Dachboden. „Auch er. Gesetzt den Fall, er lässt sich überhaupt noch blicken.“
    Gábor vertraute jedoch nicht auf mein Beobachtungsvermögen. Er ging zwanzig Schritte nach Norden, von dort aus konnte man die Nordwestkuppel bereits gut erkennen. Es brannte wirklich Licht.
    Sein Freund, auf den er wütend war, wohnte dort in dieser Kuppel, natürlich nur vorübergehend. Wenn die Bibliothek geschlossen war, konnte man über das Baugerüst zu ihm gelangen, da es auf dieser Seite des Gebäudes noch stand. Aus der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher