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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
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Augenblick daran, dass das genau
der
Moment war. Vielleicht war es meine letzte Möglichkeit, mich auf den Weg ins Unbekannte zu machen. Ich hatte bis dahin in meinem Leben noch nichts gemacht. Ich müsste mir einen Lichtpunkt auswählen, dachte ich, auf dem Berg, am Himmel oder sonst wo, ihn suchen und erobern, noch bevor ich endgültig alles verpasste. Egal welcher Punkt es wäre, es müsste nur ein sicherer sein. Ich war bereits jenseits der zwanzig, mein Leben würde bald zu Ende sein.

2.
ELYSISCHE GEFILDE
    Es sollten jedoch noch gut zwanzig Jahre vergehen, bis ich endlich einen sicheren Punkt meines Lebens auswählte: Er lag in meiner Kindheit. Es war ein Ostermontag vor vielen Jahren.
    Dem guten alten Brauch entsprechend, machten Vater und ich uns auf den Weg, die weiblichen Verwandten mit Parfüm zu begießen, so wie ungarische Männer das jedes Jahr am Vormittag des Ostermontags tun, nur war es bereits Nachmittag, und wir wurden von Mama, Erika und Gerda begleitet. Wir fuhren zu fünft von Nyék nach Budapest, damit Onkel Lajos Mama, Gerda und Erika und Vater und ich Tante Judit begießen konnten. In den vergangenen sieben Jahren hatten wir das stets so gemacht, ausgenommen die letzten, in denen Gerda aus Garstigkeit nicht mitgekommen war. Dieses Jahr war sie aber auch wieder mit dabei, da sie zur Vernunft gekommen war.
    „Aber ich schwöre euch, wenn Onkel Lajos sagt, ich sei endlich zur Vernunft gekommen, stehe ich auf und gehe.“
    Der Anfang des Besuchs stand traditionsgemäß wieder im Zeichen des Begießens und des Chaos. Tante Judit kreischte, sie wolle nicht stinken, auf keinen Fall wolle sie stinken. Wir sollten den Flaschenhals zuhalten, damit sie nicht nach Parfüm stinke. Wir hielten ihn auch zu und wie jedes Jahr begossen wir Tante Judit mit
nichts
. Ihr Haar und den Pullover. Tante Judit bedankte sich in schrillem Ton und sagte, nun werde sie sicherlich nicht mehr verwelken. Währenddessen war auch Onkel Lajos nicht untätig: Er hielt den Hals seiner halben Literflasche keineswegs zu, sondern begoss Mama, Erika und Gerda reichlich mit Parfüm, denn bei ihnen sei es ohnehin schon egal, sie seien ja am Vormittag schon von den, wie er sagte,
wilden Kerlen aus Nyék
begossen worden. Danach wurde, gemäß der Tagesordnung,
gefuttert, was das Zeug hielt
, es gab Braten, drei verschiedene Beilagen, Bejgli und Kastanienpüree mit Schlagsahne. Danach Kaffee, den wir drei Männer mit auf den Balkon nahmen, um dort zu rauchen. Das Rauchen bedeutete, dass Vater sich eine Zigarette anzündete, ich Himbeerlimonade trank, und Onkel Lajos, der sich vor Kurzem das Rauchen endgültig abgewöhnt hatte, die außenpolitische Lage skizzierte – in einem Atemzug, als würde er den ersten Rauch ausblasen –, um dann auf das immer wiederkehrende Thema unserer Zusammenkünfte, die
Große Geschichte
, zu sprechen zu kommen.
    „Also ich sage euch, es gibt Spuren, die darauf hinweisen, dass …“, sagte er und legte die erste Kunstpause ein. Er wusste, dass Tante Judit jetzt auf den Balkon kommen würde. Vater und ich wussten es auch.
    Vom Balkon aus blickte man auf die Donau. Ich konnte nie genug von dieser Aussicht bekommen, da man von hier ausschließlich Weltstädtisches sah. Zu beiden Seiten jeweils eine Brücke, die Freiheits- und die Elisabethbrücke, zwischen ihnen am anderen Flussufer den Gellért-Berg, links das Gellért-Hotel und rechts das königliche Schloss. Das deutete alles auf eine Weltstadt hin. Zumindest von diesem Balkon aus betrachtet. Selbst die Spätnachmittagssonne war die einer Weltstadt. Von diesem Balkon aus sah man nichts Provinzielles, daher war er für mich der
perfekte Ort
. Und ich war in dem Moment glücklich. Mit vierzehn Jahren zählte ich nun zum ersten Mal zu den erwachsenen Männern, da Onkel Lajos auch mich aufgefordert hatte, mir einen Stuhl auf den Balkon zu stellen. Ich musste den Männern nicht hinterherschleichen, sondern wurde eingeladen mitzugehen. Ich hatte sogar das Recht mitwissend zu grinsen, als Onkel Lajos einen lustig-besorgten Blick zuerst auf seine Uhr, dann auf die Balkontür und wieder auf die Uhr warf, denn auch ich wusste, dass er auf Tante Judit wartete, da es sich nicht lohnte, das Gespräch fortzusetzen, bis sie nicht hinausgekommen war.
    „Was mag ihr wohl dazwischengekommen sein?“, sagte er grinsend, Vater und ich grinsten ebenfalls.
    „Nun gut, kein Grund zur Panik, wir werden ohnehin nicht drum herumkommen. Es gibt also Spuren, und zwar nicht
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