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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
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den Hof und sah zur Kuppel hinauf. Als er zurückkam, blickte er finster und entschlossen. Er zeigte mir seine Uhr.
    „Mein
ehemaliger
Freund“, sagte er, woraufhin eine kurze, feierliche Stille folgte. „Alle Fristen sind verstrichen.“
    „Warum gehst du nicht hinauf?“
    „Soll er doch herunterkommen.“
    „Und wenn er sich zum Beispiel erhängt hat?“
    „Dazu braucht er mich nicht“, kam es wie aus der Pistole geschossen, aber man sah ihm an, dass ihn diese Möglichkeit nachdenklich stimmte.
    „Geh hinauf. Ich warte auf dich.“
    „Ich gehe nicht. Er ist ein volljähriger ungarischer Staatsbürger, soll er sich doch allein erhängen. Das Thema ist für mich erledigt. Und wenn ich dich noch einmal Schulterglatze nenne, kannst du mir ruhig eine reinhauen. Ich will mir das abgewöhnen.“
    „Na gut“, sagte ich. Nun war es ohnehin schon egal, den letzten Bus hatte ich verpasst, es gab nur noch einen Zug spät am Abend.
    Und wir warteten weiter. Zum Warten war der Gang gut geeignet. Es gab riesige, dreckige Fenster nach Nordwesten, die uns ein großzügiges Panorama über die östliche Seite der Budaer Berge boten. Farkasrét, Szabadság-Berg, János-Berg, Hárs-Berg, der ganze Zug. Das ist ein ganz eigenständiger Teil der Stadt. Das sogenannte Bergland. Dieses Gebirge bildet eine vierhundert Meter hohe Wand, die Budapest vom Rest der Welt trennt. Jenseits dieser Wand liegen in ungefährer Reihenfolge: Budakeszi, Zsámbék, etwas weiter Wien, der Schwarzwald, Paris, der Atlantik, die Vereinigten Staaten, von dort an Sonnenschein, der Pazifik, Sibirien, von dort an wieder Finsternis, Moskau, Debrecen, Zugló, die Budapester Innenstadt, die Donau und wieder die Bibliothek.
    Mit einem einzigen, zielsicheren Schlag auf den Lichtschalter schaltete Gábor acht Leuchtröhren aus. Zwei blieben noch an. Die konnten auch bleiben.
    Wir lehnten uns aus einem der Fenster (legten uns, genauer gesagt, bäuchlings auf das breite Fensterbrett) und betrachteten die mehreren Zehntausend Lichter des Gebirgshangs. Es war ein klarer Abend. Die Lichter der Villenviertel in den Bergen setzten sich nahtlos in den Himmelslichtern fort. Von wo aus aufwärts waren es Sterne und von wo aus abwärts Lampen?
    „Manchmal“, sagte Gábor, „zieht sich der Sternenhimmel ganz bis zur Böszörményi Straße hinunter. Das ist wie Weltraumforschung.“
    Ich nickte anerkennend. Die Böszörményi Straße lag wirklich schon sehr weit unten in der Stadt. Aber warum gerade Weltraumforschung?
    „Du meinst Astronomie“, sagte ich.
    „Keineswegs. Der Astronom hat es verdammt einfach. Er starrt in den Himmel und fertig. Wie wir jetzt. Aber versuch mal hinzugehen. Da wird es schwierig. Du siehst ein Licht auf dem Berg, das ist in Luftlinie vier bis fünf Kilometer entfernt. Wie willst du es zuordnen? Es ist beinah unmöglich. Es kann ein Fenster sein. Oder Straßenbeleuchtung. Es könnte alles Mögliche sein. Das ist aber noch gar nichts. Finde hin, wenn du kannst. Da bist du aufgeschmissen. Du findest niemals hin, wenn dir niemand behilflich ist. Du fährst mit dem Einundzwanziger Bus hinauf, steigst bei der Haltestelle aus, die deiner Meinung nach dem Lichtpunkt am nächsten ist. Du spazierst hin, findest eine Lampe oder ein Fenster, aber es ist alles umsonst: Allein kannst du dir niemals sicher sein, dass du wirklich das Licht gefunden hast, das du dir zuvor ausgesucht hattest. Nie im Leben!“
    Er schwieg zufrieden.
    Ja, und?, dachte ich ungerechterweise, denn meist beschäftigten mich ähnliche Gedanken. Deshalb war ich ja auch allein.
    „Denn dafür müsstest du gleichzeitig hier stehen und dich beobachten“, fügte er hinzu, für den Fall, ich hätte es nicht begriffen.
    „Ich habe es begriffen.“
    Er sah mich misstrauisch an. Wieder dachte er, ich mache mich über ihn lustig. Aber ich hielt seinem Blick stand. Ich hatte die Tragweite der Angelegenheit erfasst. Man sucht sich ein großes Ziel, fährt mit dem Bus der Linie 21 los, um es zu finden, und verliert es unterwegs aus den Augen.
    „Wenn den Bibliotheksleuten früher nach einem Abenteuer zumute war …“, sagte er, „Nun gut, lassen wir die aus der Bibliothek. Nehmen wir die Enzyklopädisten, die sind schon mindestens seit zwanzig Jahren hier in der Burg. Also die Enzyklopädisten wetteten, wenn sie an solch schönen, klaren Abenden guter Laune waren, auf einen Lichtpunkt auf dem Berg (ein einfaches Beispiel wäre: König-Géza-Straße 3. Dort befindet sich Budapests
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