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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
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Tatsache, dass das Licht bei ihm noch brannte, schloss Gábor, sein Freund komme absichtlich nicht auf den Hof. Sie hatten sich gegen Mittag gestritten, woraufhin Gábor ihm ein Ultimatum gestellt hatte. Er hatte einen Zettel unter der Tür des Kuppelzimmers durchgesteckt, worauf stand, dass er nach Bibliotheksschluss bei den Löwen auf ihn warte.
    „Warum gehst du nicht zu ihm?“
    „Aus erzieherischen Gründen“, antwortete er etwas hochmütig. „Das hat er dringend nötig. Außerdem sind es noch drei Minuten bis zum Ablauf des Ultimatums.“
    „Und wenn er nicht kommt?“
    Er pfiff vor sich hin.
    „Er wird höchstens zu spät kommen, weil das vornehm ist“, sagte er. „Ganz sicher wird er fünf Minuten zu spät kommen. Nur damit wir wissen, wo wir hingehören. Du wirst sehen“, fügte er hinzu und freute sich beinah. „Er wird absichtlich zu spät kommen und sich dann noch aufregen. Macht nichts, nieder mit allem, vor allem mit der Freundschaft!“
    Er setzte sogar ein verkniffenes Grinsen auf, was ein Zeichen von Lebenslust sein und heißen sollte: Die schlechten Dinge sind wichtig. Ohne Schlechtes gibt es nichts Gutes. Also sollte – letzten Endes – alles zugrunde gehen, das würde das Beste sein.
    Er las auch so. Mit dieser Lebensphilosophie. Alles. Selten geschah etwas so Außergewöhnliches, das ihn daran gehindert hätte, von früh bis Mittag ohne Unterbrechung zu lesen, wobei er den ganzen Kopf so mit bewegte, als würde er alles verneinen. Er verstaute in seinem Gehirn täglich die Menge an Informationen, die dem vollständigen Wissen eines ungebildeten Schwachkopfs entsprach. Zugegeben, nicht sehr systematisch. Zurzeit interessierte er sich gerade für Geologie, speziell für unterirdische Gewässer.
    „21:20“, bemerkte ich.
    „Ich habe auch eine Uhr.“
    Er hielt sie in der Hand. Er hatte eine Taschenuhr, die an einer roten, aus seiner Hosentasche hängenden Telefonschnur befestigt war.
    „Aber das Ultimatum ist abgelaufen.“
    „Das stimmt“, gab er zu. „Offenbar ist er nicht zu Hause. Und wenn er nicht zu Hause ist, müssen wir zu Plan B übergehen. Ich habe direkt für den Fall eine entsprechende Klausel in das Ultimatum geschrieben. Wir warten bis halb zehn.“
    Der Motor des Dienstwagens lief, denn Oszi Kerekes, der Fahrer, saß drin und heizte. Heute war er sehr zeitig aufgestanden. Er hatte am frühen Morgen eine interessante Fahrt gehabt, die Auswirkungen auf das Leben mehrerer Personen hatte, zum Beispiel auf Gábors, auf meins, vor allem aber auf das des Kuppelbewohners. Später erfuhren wir einiges darüber, aber an diesem Abend wussten wir noch nichts. Oszi hatte wahrscheinlich auch später keine Ahnung davon, in welcher Sache er an diesem Morgen behilflich gewesen war, es interessierte ihn auch nicht, aber das zeitige Aufstehen hatte ihm gutgetan, er fühlte sich wieder so jung wie damals, als er – angeblich – noch bei der
Organisation
war. Über Oszi erzählte man sich in der Bibliothek nicht viel Gutes.
    „Wollen wir ihn nicht fragen, ob wir uns zu ihm ins Auto setzen dürfen?“, fragte ich, da ich fror.
    „Du weißt nicht, was du da redest“, sagte Gábor im Ton des Eingeweihten. „Der Oszi stinkt. Niemand setzt sich neben ihn, nur ältere Herren, die eine anständige Erziehung hatten. Und die, die müssen.“
    Was wusste Gábor schon über anständige Erziehung? Darüber wusste auch ich nicht viel, dabei hatte ich bereits bemerkt, dass ich eine bessere genossen hatte als er. Auf meine Erziehung war ich immer noch recht stolz, wenn es inzwischen auch so ziemlich das Einzige war. Na ja, in dem Moment war ich eigentlich auf gar nichts stolz. Um genau zu sein, fühlte ich mich wie eine zähnefletschende, tiefgefrorene Leiche. Aber das hatte seinen eigenen Grund, für den Gábor nichts konnte und zum Glück bemerkte er auch nichts davon.
    Er pfiff eine Melodie. Wir liefen in raschem Tempo zwischen den nutzlosen Löwen hin und her, nach denen der Löwenhof benannt worden war und die in den ersten acht Jahrzehnten ihres Lebens nicht in der Lage gewesen waren, das königliche Schloss vor Gefahren zu beschützen. Zumindest nicht vor den beiden größten Gefahren, die auf ein königliches Schloss lauern, nämlich das Ende des Königreichs und der Einsturz des Gebäudes. Hier kam es zu Beidem. Nur die Löwen überlebten. Zwei angespannt wachende und zwei brüllende, unvermögende Löwenmännchen. Wenn wir bei den angespannt Wachenden ankamen, von wo aus die Kuppel zu
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