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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
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des Flussbetts ebenfalls trockenlegen, geblieben wären nur die Brücken und Kaie. Das war es, was Rákosi und seine Genossen still und heimlich planten.“
    Fót. Mogyoród. Pécel. Üllő. Kleine, aber sichere Punkte auf dem verwobenen Netz der
Großen Geschichte
. Beweise. Zauberformeln, die Onkel Lajos mit akribischer Genauigkeit aufzählte, um die Glaubwürdigkeit der Mär zu untermauern. Mein Paten onkel sprach schön, präzise, aber auch würzig, kraftvoll, makellos, in einem reichen Jargon vergangener Zeiten.
    „Aha“, sagte ich eifrig nickend. So niedergeschrieben wirkt das „aha“ etwas rotzig, aber mit vierzehn Jahren kann man das noch mit der Frische des wissbegierigen Jugendlichen sagen.
    Er nickte geheimnisvoll.
    „Du willst also wissen, warum. Ich verstehe. Bei dem Plan ging es darum, das Wasser aus dem Flussbett wegzubekommen, damit aus dem Schlamm alles zum Vorschein kam, was zum Vorschein kommen sollte. Das war nicht frei von Ratio, so schwachsinnig es einem im ersten Augenblick auch erscheinen mag. Im Laufe der Zeit sind unschätzbare Werte in der Donau versunken. Ganz zu schweigen davon, was während der Belagerung der Stadt hineingeworfen wurde. Da hätte es schon einiges zu holen gegeben. Rákosi und die anderen waren nicht blöd. Nein, das waren sie keineswegs. Und schamhaft waren sie auch nicht. Denn sie trauten sich, danach zu fragen, was sie wissen wollten. Mir kannst du es ruhig glauben. Das waren keine schamhaften Burschen.“
    Onkel Lajos, den Rákosis Schergen damals im Gefängnis in der Nagyfuvaros Straße mit
leidenschaftlichen Fragen überhäuft hatten
, bekräftigte seine Aussage mit einem Lächeln: Bei unseren Protagonisten handele es sich keineswegs um schamhafte Burschen. Gleichzeitig warf er Vater einen Kontrollblick zu, um sich zu vergewissern, ob ich tatsächlich wusste, wovon er sprach.
    „Der Junge hat davon gehört“, bestätigte Vater.
    „Mit einem Wort, sie waren sich vollkommen darüber im Klaren, was für Pläne sie im stillen Kämmerlein schmiedeten.“
    Onkel Lajos sah mich ernst und forschend an.
    „Nicht schlecht“, sagte ich.
    „Nicht schlecht, in der Tat. Und das alles ist noch nichts“, fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu. „Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass sie es nicht nur geplant, sondern auch durchgeführt haben.“
    Erneute Kunstpause. Länger, geheimnisvoller und provokativer als alle bisherigen.
    „Immer mehr Anzeichen“, wiederholte er.
    Er sah mich spöttisch an. Mir kam es vor, als zwinkere er dabei Vater zu. Darauf durfte ich nicht mehr nicken. Wenn ich an dieser Stelle keine misstrauische Frage einwerfen würde, würde er mich nicht ernst nehmen. Das war eine Prüfung. Eine kleine Männlichkeitsprüfung. Aber mir fiel keine Frage ein.
    „Komm schon, nicht, dass du mir jetzt zustimmst. Als ich das erste Mal davon hörte, schickte ich den, der mir das erzählte, dorthin, wo der Pfeffer wächst. Dabei war es Nándi, der arme, dein Vater hat ihn gut gekannt.“
    „Und ob“, sagte Vater.
    „Also hör auf zu nicken und frag. Es ist gewagt, was ich hier erzähle, darüber bin ich mir auch im Klaren.“
    Vater wollte auch, dass ich eine Frage stellte. Ich sah es ihm an. Aber mir fiel nichts ein. Ich wollte nur der
Großen Geschichte
lauschen, egal, ob sie stimmte oder nicht. Und vor allem wollte ich Onkel Lajos zuhören, wie er den Faden der Geschichte weiterspann, weiter und weiter und weiter. Dasitzen, ab und zu nicken und spüren, wie mir der Schauder über den Rücken lief.
    „Also, man schickte sich an, den Plan durchzuführen. In der Mitte des Flussbetts hätte man noch ein schmales Bett für die von rechts, aus dem Pilis kommenden Bäche gelassen. Sollten die kleinen Elenden doch durch die Stadt fließen! Schau hinunter und versuche dir vorzustellen, dass durch die Mitte des Flussbetts ein großer Bach fließt und der Rest leer ist. Was man auf lange Sicht mit dem trockenen Flussbett vorhatte, weiß im Grunde niemand. Wahrscheinlich wussten sie es selbst nicht. Vielleicht hätte man es begrünt oder bebaut, aber das spielt keine Rolle. Und weit unter Budapest hätte man am neuen Flusslauf ein Wasserkraftwerk gebaut, um keine kritischen Stimmen aufkommen zu lassen: Seht her, liebe Genossen, hier geht es um die energetische Lage unserer Volksdemokratie. Nun ja, dieses Wasserkraftwerk ist nicht entstanden. Ganz sicher ist jedoch, dass man die Sache anging. Der zukünftige Flusslauf wurde festgelegt und eines Tages begann man
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