Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
Vom Netzwerk:
Staatssicherheitsdienst eine sanfte Aufforderung erhalten, mit seiner Frau und seiner Tochter eine Reise nach Westeuropa zu unternehmen, mit dem Hinweis, dass man nichts dagegen hätte, wenn sie gar nicht nach Ungarn zurückkehrten. Man würde ihnen keine Hindernisse in den Weg legen, ja, soweit es die Möglichkeiten zuließen, würde man die Aussiedlung unterstützen. Zuerst lehnte Kornél das Angebot ab, dann besprach er die Sache jedoch auch mit Emőke Széles, die eine Cousine zweiten Grades in Argentinien hatte. Der Bruder ihres Großvaters war in den dreißiger Jahren dorthin ausgewandert.
    „Es leben ungefähr hunderttausend Ungarn in Buenos Aires“, behauptete Kornél, der wirkungsvollen Argumentation zuliebe stark übertreibend. „Wir werden ihnen Ungarischstunden geben. Es sind so viele, dass wir allein mit Ungarischunterricht bis ans Ende unseres Lebens Geld verdienen könnten. Und dann haben wir noch nichts anderes gemacht.“
    „Das ist es ja“, sagte Gábor. „Werden wir auch nicht.“
    „Wir lernen in einem Jahr Spanisch. Währenddessen zahlen wir den Preis für die Flugtickets und die Unterkunft zurück. Und schreiben.“
    „Für wen?“
    „Wie meinst du das, für wen?“, fragte Kornél. „Anfangs füreinander und dann schön langsam …“
    „Sag mal, herrscht dort nicht zufällig Diktatur?“, fragte Gábor.
    „Damit kommen sie ganz gut zurecht“, versuchte Kornél das schwerwiegende Argument zu banalisieren, da er nicht ohne seine Freunde auf die südliche Halbkugel nach Buenos Aires ziehen wollte, wo, wie er sehr wohl ahnte, nicht einmal zehntausend Ungarn lebten, von denen die, die wollten, dass ihre Kinder Ungarisch lernten, es ihnen selbst beibrachten.
    „Die Familie!“, warf ich ein.
    „Ich lasse meine Eltern auch zurück“, sagte Kornél ruhig. „Wir müssen arbeiten und dann können wir sie unterstützen. Zu arbeiten ist keine Schande.“
    „Meine Familie kann man nicht zurücklassen“, sagte ich.
    „Du liegst ihnen auf der Tasche. Stört dich das nicht? Hältst du das etwa für normal? Ist das deiner Meinung nach normaler, als nach Argentinien zu gehen, Geld zu verdienen, einen Teil davon nach Hause zu schicken und etwas mit deinem Leben anzufangen?“
    „Aber gerade in Argentinien?“
    Dabei war Kornéls Vorstellung von der ungarischen Schriftstellerkommune in Buenos Aires keineswegs eine sinnlose Idee. Wir würden zusammenleben, vielleicht sogar Tiere züchten und schreiben, unsere Werke würden in der Welt ihre Wirkung entfalten und eines Tages triumphierend nach Ungarn zurückkehren. Dann würden wir zwar nicht mehr leben, aber das wäre nicht so schlimm. Was soll’s. Denn wir wussten sehr wohl, dass es in diesem Land keine Zukunft geben würde. In unserem Leben würde sich hier nichts mehr ändern. In den nächsten fünfzig Jahren bestimmt nicht. Und falls doch, würde das mit einem unsäglichen Chaos einhergehen. Weltkrieg, Elend, Epidemien, Zerstörung. Und das würde sich nicht lohnen. Also sollte lieber alles beim Alten bleiben, sollten die guten alten Kommunisten ihre Posten behalten, Gott segne ihre ergrauten Häupter. An all dem gab es keine Zweifel, es war logisch und klar. Es war ausgeschlossen, dass wir uns irrten. Natürlich irrten wir uns, denn es vergingen nur wenige Jahre, und schon war die Zukunft in Ungarn angekommen, dort auf dem Felsen erschien uns Argentinien jedoch als eine gar nicht so geisteskranke Idee. Dort könnten wir wenigstens etwas erleben.
    Dass wir dann doch nichts in Argentinien erlebten, lag also vielleicht nur daran, dass Gábor nun, ein wenig verlegen, etwas ansprach, was er sich zuvor nicht getraut hatte.
    „Also, die Sache ist die … dass Timi und ich …“
    „Ihr seid doch jahrelang ganz gut ohne einander klargekommen“, sagte Kornél.
    „Jetzt sieht es aber anders aus“, erwiderte Gábor. „Sie hat seit drei Wochen ihre Tage nicht bekommen.“
    „Schön, dass du uns das überhaupt mitteilst!“
    „Aus Aberglauben“, sagte Gábor. „Es ist noch nicht sicher. Und wir wissen auch nicht, wie es zwischen uns momentan aussieht. Es herrscht auf jeden Fall kein Frieden. Es ist auch nicht auszuschließen …“
    Wir wussten beide, was er meinte.
    „Hör zu, Gábor“, sagte Kornél. „Wenn es in dieser beschissenen Welt etwas gibt, was sinnvoll ist, dann ist das das Einzige. Ein Kind. Also soll sie es mal schön auf die Welt bringen. Das sollst du ihr von mir ausrichten.“
    Damit war das Thema
Argentinien
vom Tisch.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher