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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
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hatte sie ausreichend: Das Leben sei nicht endlos, und ich müsse mich für meine Familie rächen, und die beste Art, das zu tun, sei immer noch, diese verdammte Zeitmaschine fertig zu bauen. Und sie solle ich in meine Rache gleich mit einbeziehen, denn sie habe ihre eigene Zeitmaschine nicht gebaut, da sie sie nicht bauen könne, sie sei nämlich keine Künstlerin, sie sei ein Niemand. Und ich solle ihr nicht widersprechen, es sei Quatsch, dass nur Männer Zeitmaschinen haben können und im Grunde auch nur ein Mann ein wirklicher Niemand sein könne. „Das stimmt nicht, Tamás, du hast unglaublich altbackene Vorstellungen von Frauen, wieso sollte eine Frau kein Niemand sein können? Schau mich doch mal an.“
    Sie hatte die Idee, in dem Magazin eine Rubrik des menschlichen Mitgefühls zu starten, dessen Titel der eines Dostojewski-Romans hätte sein können,
Erniedrigte und Beleidigte
, die Chefredakteurin lachte sie jedoch aus. Nicht, dass sie den Hilfsbedürftigen gegenüber gleichgültig wäre, sie ist nur nicht naiv, und sie ist diejenige von ihnen, die über mehr Macht verfügt. Geduldig erklärte sie Emma, dass jede Spur von Mitgefühl aus der Rubrik verschwinden würde, wenn man das Elend der Welt (oder der alten Frau aus der Nachbarschaft) in eine Form bringen wollte, die man den Lesern vorsetzen könne. Darüber war sich natürlich auch Emma im Klaren, sie konnte jedoch nicht sagen, dass sie, wäre sie die Chefredakteurin, es dennoch versuchen würde, da sie immer noch an Ausnahmen glaube und diesen Glauben wolle sie sich auch bewahren. Im Grunde war es das Wunder, woran sie glaubte. Sie hätte es natürlich sagen können, wollte das Wohlwollen der Chefredakteurin jedoch nicht auf die Probe stellen (allein schon wegen meiner Zeitmaschine nicht). Also hörte sie sich alles geduldig an. Natürlich verließ sie das Büro der Chefredakteurin mit keinem guten Gefühl.
    Und ich kämpfe auch für den Sinn ihres Lebens, wobei die Vernunft mir sagt, dass es ein hoffnungsloser Kampf ist, denn dieses wird tatsächlich das letzte menschliche Jahrhundert sein. Ich glaube jedoch genauso an Ausnahmen und Wunder wie Emma. Also an die Zukunft. An eine Art letzten Sinn der Dinge. Und ich weiß, dass ich mich eines Tages noch werde niederknien müssen, und zwar so richtig.
    Die Tanne hielt sich den ganzen Abend lang ausgesprochen gut. Ganz allein leistete sie Widerstand gegen die immer neuen Angriffe der Trostlosigkeit. Einmal fiel jemand beim Tanzen dagegen, da gelang es mir jedoch noch, sie wieder aufzustellen. Als sie zum zweiten Mal umgeschubst worden war, stellte ich sie in eine Ecke.
    Später half mir Gábor, die Tanne zusammenzubinden (für diesen Zweck hatte er mit seinem Bajonett ein Kabel zerschnitten, man verprügelte ihn jedoch nicht dafür, da das Konzert bereits längst zu Ende war und alle in der Cafeteria saßen). Keiner fragte uns, wohin wir denn mit der Tanne wollten. Es war kurz nach Mitternacht. Es lief Konservenmusik, und viele tanzten noch. Wir trugen den Baum gemeinsam vors Gebäude und lehnten ihn ans Baugerüst.
    „Soll ich dir nicht helfen?“, fragte Gábor und deutete mit den Augen diskret auf Schwesterchen, die neben uns stand. Er fragte das, da ihm auch schon aufgefallen war, dass Schwesterchen mir nur leid tat und er davon ausging, dass ich sie leichter loswürde, wenn er mitkäme. Das, was eine diskrete Augenbewegung hatte werden sollen, wurde eine nicht wirklich diskrete Kopfbewegung. Schwesterchen, mit dem Christbaumständer und der Axt unterm Arm, nahm es ihm jedoch nicht übel.
    „Keine Angst, Tamás schafft das ganz alleine“, sagte sie zu Gábor. „Uns braucht er gar nicht. Er ist sehr stark.“
    Das sagte sie so, dass weder ich, noch Gábor auf die Idee kamen, sie wolle mit ihm allein bleiben. Es bedeutete genau das, was sie sagte: Ich sei sehr stark, könne daher den Baum allein tragen. Sie brauche ich gar nicht. Und das stimmte. Wofür ich mich ein bisschen schämte. Trotzdem trugen wir den Baum zu dritt bis zum Belgrad-Kai. So war es ja doch viel leichter.
    „Und was passiert mit ihm nach Weihnachten?“, fragte Schwesterchen unterwegs. „Dein Onkel wird ihn doch nicht auf die Straße werfen, oder?“
    Ich wusste genau, wie das Weihnachtsfest ablaufen würde: Am 24. schmücken Onkel Lajos und Tante Judit den Weihnachtsbaum und am ersten Feiertag erwarten sie uns zum Mittagessen. Nach dem Essen gehen die Männer, falls es nicht zu kalt ist, auf den Balkon, wo als Erstes
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