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Liebe braucht keinen Ort

Liebe braucht keinen Ort

Titel: Liebe braucht keinen Ort
Autoren: Susan Waggoner
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extremste Form von Durchdringung war. Liza wusste von der Durchdringung, jenem verstörenden Phänomen, wenn man sich zu einem Patienten hingezogen fühlte und so sehr von diesem Gefühl überwältigt wurde, dass man völlig den Fokus verlor. Anziehung hatte Liza bereits verspürt, aber nie dieses schmerzliche Stechen, das die anderen beschrieben. Wenn man nur noch an einen anderen Menschen denken konnte, wenn man ständig sein T-Shirt unter dem weißen Kittel tragen wollte, damit man ihn während des Dienstes immer um sich spüren konnte, dann war man wirklich durchdrungen.
    »Aber das verstößt doch gegen die Regeln«, sagte Liza, als siedie Geschichte von dem T-Shirt hörte. Im Krankenhaus gab es Kleidungsregeln für alle.
    »Ja, das stimmt«, hatte Mariko Sanchez erwidert. »Aber du willst es dann trotzdem machen. Daran erkennst du, dass du durchdrungen bist.«
    »Gott sei Dank hält es ja nicht lange an«, hatte jemand hinzugefügt, und sie hatten alle erleichtert gelacht. Es kostete einige Anstrengung, überhaupt Empathin zu werden, und keine von ihnen wollte jetzt ihre Stelle verlieren. Wäre Piper nicht so begabt gewesen, hätte man sie wahrscheinlich schon vor einiger Zeit gebeten, das Krankenhaus zu verlassen.
    Seither hatte Liza versucht, Geduld mit Piper zu haben, aber im Augenblick war das nicht gerade einfach.
    »Meinst du nicht, dass du dich jetzt besser auf den Weg machen solltest?«, fragte Piper gerade. »Dr.   Morgan hat ausdrücklich dich angefordert.«
    Liza brachte keine Einwände vor. Wenn man einmal seine Schicht angetreten hatte, hatte man keine persönliche Meinung mehr. Und Piper würde andernfalls wahrscheinlich Bericht erstatten und Liza anschwärzen.
    »In Ordnung«, sagte Liza schließlich. »Ich war seit Mittwoch nicht mehr in der Notaufnahme, da muss ich mich also auf was ganz anderes einstellen.«
    »Mehr, als du denkst«, sagte Piper mit kühler, leiser Stimme hinter ihr. Liza war sich sicher, dass diese Bemerkung nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war.

Kapitel 2
    Begegnungen aus nächster Nähe
    Liza wusste nicht, was sie in der Notaufnahme erwarten würde. Sie hoffte nur, dass es keine abgetrennten Körperteile sein würden. Ihr wurde immer schwindelig, wenn sie Blut sah, und ein abgetrenntes Körperteil bewirkte, dass der ganze Körper wütend reagierte und sie nur unter großen Schwierigkeiten arbeiten konnte.
    Dr.   Morgan wartete mit finsterer Miene auf sie, aber das hatte nichts zu bedeuten, weil Dr.   Morgan immer finster schaute. Außer wenn ein Problem sich als Routinesache herausstellte. Dann sah er enttäuscht aus.
    »Prellung an der Stirn«, sagte er und führte Liza zu Zimmer zwei der Notaufnahme. »Er hat sich geweigert, seinen Kopf scannen zu lassen, und jetzt will er gegen ärztlichen Rat das Krankenhaus verlassen.«
    Gegen ärztlichen Rat. Ja, so etwas ärgerte Dr.   Morgan.
    »Glauben Sie, dass er eine Gehirnerschütterung hat?«, fragte sie.
    »Ich denke, er hat ein subdurales Hämatom. Die Blutung könnte jeden Augenblick ausbrechen wie der Vesuv.« Seine Augen glänzten erwartungsvoll, während er mit einer Handbewegung auf den Untersuchungsraum deutete. »Schauen Sie mal, ob Sie es schaffen, ihn zum Bleiben zu bewegen.«
    Liza atmete tief durch, um einen klaren Kopf zu bekommen, und trat ins Zimmer. Der junge Mann, der in der Kabine saß, war nicht viel älter als sie. Man hatte Liza dazu ausgebildet, besonders die kleinen Gesten zu beachten, die in den ersten Minuten einer Begegnung Aufschluss über den Gemütszustand des Patienten und über seine Offenheit gegenüber nicht-invasiven Heilmethoden gaben. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie eine verschwommene, rasche Bewegung. Es sah so aus, als hätte sich der junge Mann mit einem kleinen Metallstück über die Stirn gerieben, aber der Gegenstand war so schnell wieder in seiner Tasche verschwunden, dass sie nicht sicher sein konnte.
    Als der Patient den Kopf hob, spürte Liza ein heftiges Ziehen. Ein unwillkürliches persönliches Hingezogensein. Einen Reflex, so wie man hustet, wenn man in ein staubiges Zimmer tritt. So etwas hatte sie schon zuvor bei anderen Patienten verspürt, aber nicht ganz so stark. Als er sie anschaute, schienen seine tiefen, grauen Augen sie beinahe magnetisch anzuziehen. Sie wollte ihn nur immer weiter anschauen, genau ansehen, wie ihm ein paar Strähnen seines dunklen Haars in die Stirn fielen. Piper hatte offensichtlich mit ihren Sticheleien Lizas innere Ruhe sehr
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