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Liebe braucht keinen Ort

Liebe braucht keinen Ort

Titel: Liebe braucht keinen Ort
Autoren: Susan Waggoner
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hatte.
    Sie schaute Mrs   Hart an und verstand plötzlich die verworrenen Gefühle, die sie eben verspürt hatte.
    »Enttäuschung«, sagte sie. »Jetzt sind es Unglücksbringer geworden, nicht? Sie sind niemals nach New York gereist, obwohl nichts von dem, was geschehen ist, Ihre Schuld war.« Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte Liza das Gewicht von Mrs   Harts Enttäuschung. »Das ist so ungerecht!«
    »Das ist schon sehr lange her. Beinahe hundert Jahre. Diese Imitate waren die ganze Zeit über meine Glücksbringer. Mehr, als du erahnen kannst.« Sie wedelte ihre Armreifen hin und her, als könnte sie damit die Luft reinigen. »Nun, ich würde sagen,dass du hervorragend für deinen Job geeignet bist, meine Liebe. Sollen wir anfangen?«
    Liza wünschte sich, sie hätte Dienst gehabt, als man Mrs   Hart wieder eingewiesen hatte. Weil sie erst den Abstreifvorgang hinter sich bringen und sich dann noch um zwei, drei andere Patienten kümmern musste, würde sie kaum vor zwei Uhr nachts in Mrs   Harts Zimmer kommen.
    Mrs   Hart würde schlafen, wenn die Sitzung begann, was für die Behandlung in Ordnung war. Aber dann würde sich Liza nicht mit ihr unterhalten können.
    Sie schaute sich den Rest ihrer Patientenliste an. Caroline Neville war auch wieder da. Liza musste mit ihrer Beraterin darüber reden, denn Caroline fehlte eigentlich gar nichts, außer dass sie sich an Freitagabenden manchmal einsam fühlte. Liza berührte den Bildschirm noch einmal, um nachzusehen, ob es weitere Anfragen von ihren Patienten gab.
    Mrs   Hart bat sie, an einen See in der Abenddämmerung zu denken, an dem die Eistaucher sangen. Ein anderer Patient, ein Junge, fragte, ob sie sich bitte vorstellen könnte, dass er beim Sportfest seiner Schule am 400-m-Rennen teilnahm und als Erster über die Ziellinie sprintete. Man hatte sein Bein vom Knie ab amputieren müssen, und nun wurde ein neues Bein gezüchtet, das sein fehlendes ersetzen sollte. Liza freute sich über diese Anfrage und musste unwillkürlich ein wenig lächeln.
    Wegen solcher Wünsche arbeitete sie so gerne mit Kindern. Die hatten eine echte Begabung fürs Heilen. Die Eltern des Jungen hatten ihn wahrscheinlich daran erinnert, dass er erst einmal wieder gehen lernen musste, oder sie hatten ihm erklärt, dass er nur in einem Team gewinnen konnte. Der kleine Antoine mit dem gerade nachwachsenden Bein hatte sie jedoch um genaudas Richtige gebeten. Manchmal musste man erst rennen, ehe man gehen konnte, zumindest im Herzen.
    Als Liza fertig war, berührte sie den Bildschirm noch einmal, sodass er sich wieder in einen Spiegel verwandelte. Nun sah sie ihre beiden Augen da, wo vorher noch Namen und Diagramme angezeigt worden waren. Und natürlich ihre Haare! Sie brauchte beide Hände, um sie am Hinterkopf zusammenzufassen, und selbst dann lösten sich noch ein paar gelockte Strähnen heraus. Sie versuchte, die Ausreißer zu bändigen, allerdings ohne großen Erfolg. Die Haare waren einfach noch nicht lang genug. Dieser Kiefernzapfen-Haarschnitt war wirklich ein Fehler gewesen. Sie wickelte ein Haarband um den Zopf, hängte sich ihre ID-Karte um und achtete darauf, dass die Sensoren der Schnur die Haut an ihrem Nacken berührten. Zwei Jahre Ausbildung und ein Jahr Praktikum, und immer noch verspürte sie ein erregendes Prickeln, sobald die Sensoren Kontakt aufnahmen und ihr Namensschild mit dem weichen optimistischen Blau ihres Berufs aufleuchtete:
Liza McAdams, Empathin
.
    Liza schob sich durch die Doppeltür mit der Aufschrift ABSTREIFRAUM und betrat den langen, ruhigen Gang, wo die Farbe des Lichts allmählich von Weiß zu schattenhaften Blau- und Grüntönen überging. Es war, als watete man in einen stillen Teich, wo einem das Blau und Grün zunächst bis zu den Knien, dann bis zur Taille und schließlich bis zu den Schultern reichten. Nach weiteren fünfundzwanzig Metern fühlte sie sich allmählich wie eine Kaulquappe, die unter einem Dach von Seerosenblättern dahinschwamm.
    Sie hatte sich schneller als die meisten ans Abstreifen gewöhnt. Am Anfang konnte es bei Praktikanten stundenlang dauern, bis sie alles Störende abgestreift hatten, aber Liza hatte selten mehr als eine Stunde benötigt. Und sobald sie abgestreift hatte, fiel esihr leicht, diesen gelösten Zustand beizubehalten. Alle in ihrer Klasse beneideten sie darum, dass sie es so schnell begriffen hatte, aber Liza glaubte, dass es wahrscheinlich nur daran lag, dass sie so jung war und noch nicht viel erlebt
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