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Licht

Licht

Titel: Licht
Autoren: Christoph Meckel
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Geld, das wir gespart hatten oder das uns sonstwie zugefallen war. Später hatten wir Geld soviel wir wollten. Wenn wir nicht länger jung sondern älter waren, spielten Geld und Zeit keine Rolle mehr. Was uns heute nicht möglich war, ließ sich später verwirklichen, später ging das alles ganz mühelos. Dann würden wir auch die Bücher lesen, für die wir jetzt keine Ruhe hatten, Reiseberichte, Enzyklopädien und Memoiren, die russischen Klassiker und den ganzen Balzac. Später – das war die Zeit nach der Verausgabung, wenn wir das alles hinter uns hatten: Erfolge und Mißerfolge im Beruf, die unumgänglichen Reisen und die tägliche Müdigkeit. Später – das war die Zeit nach ein paar Jahren, vielleicht schon der Morgen des übernächsten Tags, ein Sprung aus dem Kalender ins Licht, eine unerwartete Chance. Später wollten wir nach Kanada fahren, in die Wälder von British Columbia, die Buchten des Pazifik, wo Luft und Wasser noch nicht vergiftet waren. Dole erzählte von schottischen Inseln, wo kleine krumme Apfelbäume wuchsen, die Ende Oktober zur Reife kamen – dorthin hatte sie schon als Kind gewollt. Dort wollte sie den nördlichen Sommer verbringen, auch wenn es regnete, wochenlang, und das Gras im Bindfadenregen verfaulte. Oporto, Simoon Sound, Redonda – Island, Potosi im Bergland von Bolivien und das alte, sagenhafte Königreich Shin, davon träumte sie, wenn sie ausbrechen wollte, das waren ihre unanfechtbaren Namen. Dort war der Vorgarten Eden, den es im verbrauchten Deutschland nicht gab. Wir waren in Lissabon gewesen, aber nicht in Kimi, sechsmal in Rom, aber niemals am Schwarzen Meer. Wir erinnerten uns an die Platanenalleen in Limoges, aber Segovia kannten wir bloß von einer Ansichtskarte. Es gab noch die roten Ebenen Arizonas, den Herbst in Mälaren und die endlosen Pisten durch die Savanne von Tschad. Es gab noch Palmyra, den Tempelstaub dort und das ganze Kleinasien. Es gab noch immer den größten Teil der Welt und die Frage, welchen Gebrauch wir in Zukunft davon machten.
    Wichtiger als die Orte, in die sie zurückkam, erschien ihr die Welt, von der sie sich keine genaue Vorstellung machen konnte. Die normannische Küste war etwas für später, die Dörfer an der Creuse, der Ätna im Süden, der Inarisee im Norden, und es war schön (es war unwahrscheinlich schön), daß wir gemeinsam dorthinfahren wollten. Regenwälder! Korkwälder! Baobab! Der Yosemite-Park und ein Holzhaus in Indiana! Später, später – das alles hatte Zeit, die Orte rannten nicht weg und die Namen blieben dieselben.
    Die Orte rannten nicht weg und die Namen blieben dieselben – richtig war, daß die Namen dieselben blieben. Aber die Orte veränderten sich schnell. Bevor man hinkam, waren sie schon zerstört. Es wurden Kraftwerke aus dem Boden gestampft, Industrien, Stauwerke, Autobahnen und Touristenstädte; die Küste war vergiftet, der Strand gesperrt. Ganze Staaten waren zu Sperrzonen erklärt oder militärisch abgeriegelt worden. Die Küste von Maine – das war die Vorstellung, dort zu sein und lange zu bleiben; was man dort vorfand, war zunächst keine Frage. Vielleicht war das Reisen später nicht mehr möglich. Es war vielleicht durch besondere Maßnahmen erschwert oder bloß noch ermüdend. Der eigene Körper war vielleicht zu verbraucht, um noch irgendwo hin zu kommen. Es war denkbar, sogar wahrscheinlich, daß Tokio nicht mehr bewohnbar war für Leute, die empfindliche Lungen hatten. Wer an Schlaflosigkeit litt, blieb besser zu Hause. Nur wer ein Babitt war und ziemlich robust, nahm es noch mit einer Metropole auf. Es war ohnehin klar, daß die meisten Orte in Ländern lagen, in die man nicht unbedingt reisen wollte, in denen ein uneingeschränktes Leben nicht möglich war.
    Und es war vorauszusehn, daß die Verhältnisse dort nicht verbessert wurden. Ein gewöhnlicher Ausflug in die Berge von Guadalajara fand nicht mehr ohne Beschattung statt, das war durchaus keine Schwarzmalerei. Kontrollen, Überwachungen, Sondergenehmigungen, Vorschriften und Einschränkungen aller Art – so daß man schließlich die Lust zu reisen verlor. Natürlich weiß ich das alles, sagte Dole. Ich fahre nicht weg, um melancholisch oder rebellisch zu werden. Ich weiß Bescheid, schon von Berufs wegen weiß ich Bescheid, das verdoppelt den Wert meiner Orte und Namen. Ich kann mir durchaus vorstellen, was mich erwartet, wenn ich im Wagen durch das südliche Indien fahre. Ich kann mich aber nicht damit abfinden, daß alles
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