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Licht

Licht

Titel: Licht
Autoren: Christoph Meckel
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in das Bett
zurückgekommen bist
    (ganz ungewöhnlich für Dole, so etwas zu schreiben) und wußte, daß der Satz nichts mit mir zu tun hatte. Dieses Du war nicht an mich gerichtet. In diesem Augenblick war die Unschuld vorbei. Unmöglich, das Geschriebene nicht zu lesen. Ich steckte den Brief in die Tasche und stand eine Weile da, zunächst erstaunt (etwas sehr Sonderbares schien vorgefallen), vielleicht schon mit Neugier, dann mit der Gewißheit, in ein Geheimnis hinuntergerissen zu sein. Ich ging in den Bungalow und fand Dole schlafend auf der Couch.
    Wie beseitigt man ein Geheimnis, das man selber nicht verursacht hat. Ich weiß nicht, wie man Geheimnisse loswird, es sei denn durch Vergessen, weniger anstrengend durch Vergeßlichkeit. Aber ich bin nicht vergeßlich. Geheimnisse will ich nicht erfahren, weder ihren Inhalt noch daß es sie gibt.
    Dole schlief unter dem schwarzen Poncho, den wir in Patzcuaro kauften, an einem Abend der Regenzeit, als sie frierend unter den Arkaden neben mir herging. Ihr Gesicht lag seitlich auf dem Ellenbogen, isabellfarben zwischen dem hingestreuten Haar, der Mund leicht geöffnet, das Atmen sichtbar, Erscheinung vollkommener Ruhe und Sorglosigkeit, verführerisch, entwaffnend, erstaunlich für mich, mein Vorhandensein neben der Couch eine Indiskretion (beklemmender als die Entdeckung des Briefs vor ein paar Minuten). Doles Körper, den ich kannte und der zerstörbar war nicht allein durch den Tod, sondern auch durch mich, durch einen Faustschlag, mit einem Messer. Als sähe ich diesen Körper zum letztenmal. Als sähe ich zum letztenmal eine schlafende Frau und zum letztenmal die Frau, mit der ich lebe.
    Ich ging so geräuschlos wie möglich durch das Zimmer, erleichtert, daß Dole weiterschlief. Ihre Abwesenheit war jetzt unbedingt notwendig, ich brauchte Zeit für mich und dieses Papier (obwohl ich nur eine Zeile gelesen hatte, wußte ich, daß ein Leben zu Ende war). Ich brauchte jetzt Zeit in einem geschlossenen Raum, unabsehbar viel Zeit für das plötzliche Irrsein. Zum erstenmal seit Jahren verschloß ich die Tür. Ich machte das Fenster zu, glättete das Papier und legte es auf den Tisch, nahm das alles so lautlos wie möglich vor, entsprechend der Heimlichkeit des ganzen Unfalls. Durchdringende Stille (die Aircondition bewegte den Saum der Gardinen). Ich las den Brief ein erstes Mal übereilt, ein zweites und drittes Mal Wort für Wort, immer noch erstaunt, daß es ihn gab, ungläubig, daß er von Dole geschrieben war, er konnte unmöglich von Dole geschrieben sein, aber ihre Handschrift und ihre Tinte – unwiderlegbar (Dole hat diesen Brief geschrieben; sie hat ihn an einen Menschen gerichtet, der auf unvorstellbare Weise diesen Tag mit uns teilt). Ungeheure, schlagartige Erschöpfung. Keine Möglichkeit, aus der Defensive herauszukommen. Es schien nichts anderes zu geben als diesen Brief, es gab überhaupt nichts mehr außer diesen Sätzen. Ich weiß nicht, wie lange ich las und zu denken versuchte. Ich versuchte nachzudenken, ich dachte nichts.
    Ich wollte, es wäre Nacht, oder die Preußen kämen. Es war ungefähr Mittag, sehr warm und hell vor dem Fenster, das letzte Laub in den Bäumen ohne Bewegung. Keine Beruhigung durch Lärm oder Radio. Unentrinnbarkeit aus Licht und Stille, mir hätte schon eine Sonnenbrille genügt. Ich stand in meinem Zimmer und atmete noch, spürbar anwesend in meinen Kleidern, ich war nicht mehr derselbe und war noch da. Früher oder später, an diesem Tag, mußte ich aus meinem Zimmer heraus und hinein in die gemeinsame Gegenwart mit Dole, die ich mir jetzt nicht mehr vorstellen konnte, während ich mir früher – in der Zeit vor dem Brief – jeden bevorstehenden Augenblick hatte vorstellen können, das Verlassen des Zimmers, Kaffeegeruch im Flur, Doles Nacktheit auf einem Bett, leichte Küsse auf ihre Brust und ihr zögerndes, träges Erwachen am frühen Nachmittag. Ich mußte hinaus zu der neuen Dole, egal, wer ich selber inzwischen geworden war.
    Unvorstellbar, ihre Brust zu küssen.
    Nie wieder möglich.
    Ich war noch im Zimmer, als sie rief, ihre ruhige helle Stimme zwischen den Wänden, die unregelmäßigen Schritte im Flur, sie schien mich auch auf der Terrasse zu suchen, denn ich hörte meinen Namen im Mittag draußen – Gil? Gil? – so wurde ich in der Kindheit nach Hause gerufen, aber ohne die fragende Zärtlichkeit. In meinem Zimmer schien Dole mich nicht zu vermuten, sie lief durch den Garten, ich sah sie am Fenster
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