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Licht

Licht

Titel: Licht
Autoren: Christoph Meckel
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Er stand auf einem Fußballplatz und beobachtete den Zug, brauner, alter, überlebender König, und ich war stolz, weil er keine Angst vor uns hatte. Das war nördlich von Dijon, ob man die Füchse dort nicht erschießt? Man erschießt sie sonst überall und wirft sie weg oder hängt sie an Straßenschilder.
    Wir liefen im Frühjahr am Wasser entlang, wenn die Segelboote gestrichen wurden, zahllos und bunt auf Holzböcken in der Sonne. Unruhige Luft über dem Wasser, Ebene unter Kälteschauern, Uferwege voll Schlamm und leuchtende Weiden – alles nördlich, wie du es liebst. Aber auch komisch, sagte Dole, der Familienbetrieb am Wasser, die Hemdärmelmänner mit ihren Farbtöpfen, die Kinder mit Kofferradio unter den Booten, die in Decken gepackten Tanten auf Campingstühlen und diese kopflosen eiligen Taucherenten. Die Strände der Buchten waren leer, in den Ruderclubs wurde Bier getrunken. Wenn die Märzsonne erstmals wärmte, saßen wir vor einem Café am Fluß. Zwischen Klapptischbeinen schmolz der Schnee. Onkelhaft joviale Kellner kamen im Plattfußschritt und servierten verschüttetes Bier. Wir liefen alte Wege am Fluß entlang und beobachteten Schleppkähne, die unter Wäschesegeln nach Holland schwammen, Ausflugsdampfer voller Frauenvereine, Gelächter von Schnapsdrosseln und Musik auf dem Wasser. Wir warteten, bis die Bugwelle kam, dann klatschte der Schaum an die Bäume und zischte im Schilf. In nassen Schuhen rannten wir durch trockenen Sand. Wir lagen im Halbschlaf unter Akazien und Birken, weil Dole Akazien und Birken liebte, ihre luftigen Schatten auf dem Gras. Das sind die schönsten Schatten, die es gibt, sie sind so hell, beweglich und leicht. Bring irgendwen in den Schatten einer Akazie und er ist schön. Birken und Akazien sind meine Bäume, ich könnte immer in einem Akazienland leben. Schwerelosigkeit und Licht im Sommer – ob andere Leute auch so verrückt danach sind? An stürmischen Abenden im Oktober fuhren wir auf das Land und sammelten Nüsse. Grüne Nußschalen, braune Hände und der bittere Geruch an den Fingerspitzen. Wenn der Bauer auf seinen Nußboden kam, waren wir wieder auf der Autobahn. Wir erklärten uns zu Mundräubern aus Passion und sprachen uns und alle Nußdiebe frei.
    Für mich ist das alles nicht selbstverständlich, sagte Dole. Ich nehme das alles ganz persönlich, habe es immer persönlich genommen, ein Mittagessen mit dir in einer Boulettenkneipe, eine Autofahrt nach Kärnten, eine Regennacht auf dem Land. Ich bin glücklich, wenn ich etwas entdecke, womit ich übereinstimmen kann. Zu wenige Übereinstimmungen sind möglich, zu wenige Tatsachen, die ich bejahen könnte, zu wenige Menschen, denen ich zustimmen kann. Nichts ist selbstverständlich je älter ich werde. Ein Lachen zu zweit, die Gesundheit, der Schlaf, die Entdeckung einer unzerstörten Landschaft und Freude über ein Spielzeug, das du mir schenkst – ich nehme das nicht, als stünde es mir zu. Ein gemeinsam verbrachter Tag war nicht selbstverständlich, obwohl wir Hunderte von Tagen zusammen verbracht hatten und es für alle, außer für uns, ganz selbstverständlich war, daß wir Hunderte von Tagen und Nächten zusammen verbracht hatten und in Zukunft zusammen verbringen würden.
    … und wäre jetzt gern bei Dir. Sehr gern würde ich etwas für Dich tun, Dir eine Zeitung mit guten Nachrichten kaufen, Frühstücksbutter aus Deinem Mundwinkel küssen. Dir zuliebe kann ich alles tun: arbeiten, früh aufstehn, vernünftig sein
    Ihm zuliebe die Kraft zur Unaufrichtigkeit, dieses sonderbare Vernünftigsein. Was bedeutet Vernunft in ihrem Fall? Was weiß der andere von uns, und was weiß er von mir? Was hat Dole von uns preisgegeben? Hat sie überhaupt etwas preisgegeben? Ist es möglich, den einen zu lieben, ohne vom andern etwas preiszugeben? Ihm zuliebe Täuschung und getrennte Gefühle, aber auch ihrem gewohnten Dasein zuliebe und weil sie keinen Menschen verletzen will. Sie braucht ein unverletztes Leben nach allen Seiten. Wo führt das hin? Sie liebt diesen Mann, das beweist jede Zeile des Briefs, und sie liebt mich, denn sie lügt nicht in unserem Bett. Ihr Körper ist das Aufrichtigste, was ich kenne.
    Es handelt sich nicht um eine Affaire. Würde es sich um eine Affaire handeln, hätte ich das von Dole erfahren. Ein Affaire beansprucht wenig und löst sich auf. Der Gedanke an eine Affaire müßte mich eigentlich beruhigen, es ist aber nicht der Fall. Dole, in eine Affaire verwickelt – das ist eine
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