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Licht

Licht

Titel: Licht
Autoren: Christoph Meckel
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voll Wasser und die leeren, fauligen Köpfe der Sonnenblumen. Dole sagte: das Gras sieht aus, als sei es aus einer Matratze gerissen worden, die nassen Steine sehn schwerer aus als sie sind. Die letzten Blätter turnten in Augenhöhe, schwarz geworden im tropfenden Unterholz. Geschälte Baumstämme über den Straßengräben, von Fäulnis durchsäuerte, beißende, kalte Luft. Wir stelzten durch die Pfützen und hielten uns fest, wir sprangen über die Gräben und fingen uns auf. Dole blieb stehn, wenn ein Blatt durch die Stille fiel, unüberhörbar einzeln an Äste stieß und im gesammelten Laub auf dem Boden verschwand. Wir gingen hintereinander durch nasses Gestrüpp, Wasser kugelte über die Mantelkragen und wurde aus Doles Gesicht geküßt. Es sind aber keine Tränen, sagte Dole, ich weine nicht oft. Sie weint nicht oft, ihre Augen sind klar, und ihre Backen sehn wie Borsdorfer Äpfel aus; wenn sie fünfundachtzig Jahre alt ist, eine gebeugte Dame, wird sie zwei kleine Tränensäcke haben, aber jetzt ist sie tränenlos jung, sie ist schön wie – schön wie was, fragte Dole. Mir fiel kein Vergleich ein.
    Gottseidank habe ich meine festen Stiefel angezogen (sagte Dole), die dicken Lederstullen aus Tirol, erinnerst du dich, wie wir die Schuhe kauften, im Warensilo neben der blauen Weinhandlung, ich kaufte meinen neunzehnten Regenschirm und schenkte dir ein grünes Schnapsglas, hast du das grüne Schnapsglas noch? Und der Ziegenfellmantel mit dem Pelzkragen und den eingenähten, zu engen Leinentäschchen und der braune Shawl mit dem Elefantenmuster, wer hat mir den braunen Shawl geschenkt, hast du mir den braunen Shawl geschenkt? Sie warf Schneebeeren auf den Weg und zerdrückte sie mit dem Schuh, die Beerenhaut platzte mit matschigem Knall, ein Geräusch aus der Kindheit, sagte Dole, jeder hat Schneebeeren mal mit dem Schuh zerknallt. Ich habe es auch mit dem Daumen versucht, aber das gelingt nicht, man kann eine Beere nicht mit den Fingern zerknallen, nicht mal mit der Faust; man muß auf die Beere treten, schnell und boshaft, damit sie die schöne Explosion von sich gibt. Aber man soll Schneebeeren nicht zerknallen, weißt du warum? Weil die Vögel Schneebeeren fressen im Schnee, wenn kein Futter mehr da ist. Schneebeeren fressen im Schnee, das habe ich mir gemerkt. Von allen Sachen, die ich gelernt habe, sind mir nur die verrückten oder poetischen Einzelheiten in Erinnerung geblieben. Es war mal ein Geigenbauer, der lebte in Straßburg und hieß Nörgelpuff – und das ist alles, was ich von Straßburg weiß. Sie zerknallte Schneebeeren ohne Rücksicht auf den Vogelwinter. Sie sammelte einzelne Blätter aus dem Gestrüpp, trocknete sie zwischen den Handflächen, steckte sie in die Tasche und fand sie nach Monaten wieder, seidige Krümel an den Fingerspitzen. Wir waren in jeder Jahreszeit unterwegs. Wenn der Föhn die Winterdämmerung wärmte, der Regen unter das Mantelfutter kroch, schlechtgelaunter Landregen im April. Wir rannten auf Weinbergtreppen ins nächste Dorf, wenn ein Gewitter hinter den Hügeln aufstieg – teuflische Kochtopfwolken, sagte Dole – und wir gingen im Juli durch Stechmückenschwärme und Glast, Augenschließlicht, Schlaflicht, Schwitzbadsüden. Schön waren die Vogelbeerbäume im Herbst und die Hohlwege zwischen den Weinterrassen, wenn Septemberhitze den Lehm zerriß – von der Wegwand rieselte Staub über die Sandalen. Am schönsten war die Erntezeit in den Kirschgärten, volle Körbe und lange Leitern im Laub, Kirschbaumhimmel voller Bauernbeine. Und der Holunder in den Vorstadtgärten, süße Holundersuppe im August, als ich klein war, sagte Dole, erschrak der Spiegel vor meinen blauen Zähnen. Wir liefen tagelang durch das Gebirge, Jägersteige durch Geröll und Ginster. Sommergewölk hing in Trauben über dem Kopf, der Nordwind kämmte das Gras und schauerte durch die Mulden. Aus dem Unterholz schwirrten Rebhuhnfamilien, gefiederte Düsen über die Steine weg, und Regenpfeifer irrten durch das Gestrüpp, wir hörten die Flügelschläge und sahen nichts. Und die Füchse natürlich, sagte Dole, gefallen dir Füchse? Ich kannte mal einen Fuchs in der Schweiz, er flüchtete auf einer Schotterhalde, geräuschlos über die lockeren spitzen Steine, kein Stein bewegte sich, wie war das möglich, kein einziger Stein, ich habe es gesehn. Er blieb am Waldrand stehn und sah mich an, trabte dann in die Berge, hochnäsig, ein Misanthrop. Und der Fuchs, den ich vom Zugfenster aus gesehen habe.
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