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Licht

Licht

Titel: Licht
Autoren: Christoph Meckel
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haben nicht mehr getrunken als sonst; es liegt nicht am Wein, uns fehlt bloß der hundertprozentige Autoparkblick. Mit Autoparkblicken liefen wir über die Plätze und konnten den Wagen nicht finden. Ich glaube, hinter dem Naturkundemuseum, sagte Dole. Wir suchten das Naturkundemuseum, liefen mehrmals um den Block und stellten fest, daß der Wagen weder vor noch hinter dem Naturkundemuseum geparkt war. Wir entzifferten Nummernschilder von PKWs und fragten uns, welche Nummer der Wagen habe und wo wir ihn normalerweise, vernünftigerweise oder in schwierigern Verkehr geparkt haben könnten. Irgendwie kann ich mir Autos nicht richtig merken, sagte Dole, ich weiß immer noch nicht, wie dein Auto aussieht. Wenn wir den Wagen schließlich gefunden hatten (er stand gewöhnlich vor dem Lokal, in dem wir gegessen hatten), schworen wir uns, das nächste Mal besser aufzupassen. Oder weniger Wein trinken, sagte Dole. Während der Motor warm lief, saßen wir zwischen verregneten Scheiben und überlegten, was wir in der immer noch bevorstehenden Nacht tun würden. Die Nacht und der Wein sind dasselbe, sagte Dole, ich kann mir ein Nachtessen nicht ohne Wein vorstellen. Weintrinken in der Nacht – das gehörte zum Glück, man trank seinen Wein wie ein alter Bauer, bedächtig. Während des Tages hatten wir zu tun, an getrennten Orten und zu verschiedener Zeit, und an den Mittagen tranken wir lieber Kaffee, oder nur wenig Wein und viel Kaffee, um Kopfschmerz, Rausch und Melancholie zu vermeiden. Alles Schöne machen wir in der Nacht, sagte Dole. Ich bin zwar nicht gerne vernünftig mit dir, aber wenn es sein muß, kann ich auch mal vernünftig sein. Nachts tranken wir ohne Rücksicht auf den Tag. Nächtlicher Wein hatte weder Kopfschmerz noch Melancholie zur Folge. Die Nacht und der Wein waren fast dasselbe.
    Nachts waren wir gern die letzten Gäste. Zwischen abgeräumten Tischen verspürten wir keine Verlorenheit. Tellerklappern in einer Küche, klirrende Fenster und Weingläser störten nicht. Wir brauchten keinen Krawall aus Stimmungskanonen, wir vermißten weder Rock ’n’ Roll noch die neuesten Nachrichten. Am Morgen war das etwas anderes. Wir trafen uns zum Frühstück im Espresso, standen in der Nähe der Musikbox und blickten durch offene Türen in den Verkehr. Wir lasen Zeitungen und redeten laut, und es störte uns weder das Gurgeln der Kaffeemaschine noch das Pfeifen des Kellners, der Sägmehl zwischen den Schuhen zusammenfegte. Aber beim Nachtessen waren wir lieber allein. Allein, das ist unsere Chance in dem Ellenbogenbetrieb, sagte Dole. Wir gingen gern auf eine gute Party, aber wir gingen auch gern wieder von dort weg. Wir betranken uns gern mit allerlei Leuten in einer Stehbierkneipe, aber wir waren auch gerne nüchtern unter vier Augen. Wir fuhren gern betrunken über den Damm, aber wir saßen auch gerne hinten im Wagen und hörten zu, was die anderen sagten.
    Wir entbehrten nichts, wenn wir allein waren. Nichts fehlt mir von dir und von mir, sagte Dole, falls es das Glück gibt, muß es sowas sein – mühelose Gerechtigkeit für zwei. Unser Alleinsein war unverzichtbar, erste und letzte Voraussetzung für das Glück. Aber wir brauchten nicht Glück, sondern Zeit; nicht Zeit, sondern Freude ohne Betrieb; nicht Freude ohne Betrieb, sondern Unabhängigkeit in nächtlicher Ruhe. Ruhe war nötig, um Dole nach Tagen oder Wochen der Abwesenheit zu betrachten und festzustellen, welches Armband sie trug und welche Kleider. Viel nächtliche Zeit war nötig, um vielleicht zu erfahren, welches Entsetzen sich in ihr abgespielt hatte und was für Bezauberungen ihr widerfahren waren in einem Augenblick, den ich nicht miterlebt hatte. Zeit war nötig, um etwas von ihr zu erfahren, ohne sie danach zu fragen. Uneingeschränkte Zeit war nötig, um Dole herauszufordern oder in Ruhe zu lassen. Die Nacht und die Liebe waren dasselbe.
    Sie scheint den ganzen Tag geschlafen zu haben. Ich sah sie am Morgen, dann wieder in der Nacht. Sie stand am Küchentisch und machte Kaffee. Ohne mich anzusehn, fragte sie, wie es mir geht. Sie sah erschöpft aus, ein verlorenes Lächeln. Sie hält es offenbar nicht für möglich, daß ich ihr verändertes Wesen bemerke. Früher hätte ich sie in die Arme genommen.
    Ich hätte sie in die Arme nehmen sollen.
    Leere Straßen, Wintertage in der Provinz, schnelles Fahren im durchsonnten Nebel. Weingärten im Regen und Krähenschreie in weißer Düsternis. Ausgefahrene Sandwege zwischen Mauern, Radspuren
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