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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Autoren: Norbert F. Schaaf
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Zeitgarn weiter zurückspulen, Schritt für Schritt.  
    Nun, am Morgen des 8. November konnte man jedenfalls Folgendes erleben, das ist nicht zu bestreiten: An einer Straßenecke sang ein einzelner Mann die leicht abgewandelten Heine-Verse:
     
    „Ich rate euch, nehmt euch in acht,
    Es bricht noch nicht, jedoch es kracht;
    Es ist das Brandenburger Tor
    Noch immer groß und weit wie je zuvor,
    Zwar noch verniegelt und vernagelt mit der Mauer,
    Liegen wir doch längst schon auf der Lauer.
    Einzelnem gleichwohl gebricht es guten Mutes;
    Jedoch – des seid gewiss: Die Menge tut es!“
     
    Und alle Leute – auf dem Weg zur Arbeit und zu Besorgungen – verhielten atemlos, eine Frau aus dem Volk hielt es mit dem großen Tucho und fuhr singend fort:
    „Vierzig Jahre Mord – das sind, weiß Gott, genug.
    Du stehst vor deinem letzten Atemzug.
    Zeig, was du bist. Halt mit dir selbst Gericht.
    Stirb oder kämpfe!
    Drittes gibt es nicht!“
     
    Worauf die Menschen im Chor brecht´ig zu singen begannen:
    „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine.
    Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.
    Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne
    Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.
    Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne
    Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt.“
     
    Schlagartig dann wechselte das Publikum; der Besarin-Platz war übersät mit merkwürdigen Pärchen und sonderbaren Kleingruppen – die „Schwulenparade“ hatte begonnen, wie der Volksmund ironisch den Aufmarsch der Stasi nannte. Aus diesen Kreisen verlautete aggressiv und lakonisch: „Das ist schiere Konterrevolution!“
    „Kommt bloß weg!“ rief Johannes nervös und zog die beiden Freunde mit sich fort. Menschenansammlungen waren ihm seit jeher ein Gräuel, wohingegen Gustav von allen dramatischen Szenen geradezu magisch angezogen wurde. Widerstrebend folgte er den Freunden, wandte sich aber noch einmal um und sah, wie sich die Leute langsam zerstreuten, um sich anderswo sogleich wieder zusammenzufinden.
    Bald begann – wie auf ein geheimes Kommando, jedoch ohne erkennbare Regie – eine wahre Völkerwanderung, die am Spätnachmittag aus allen Richtungen zum Stadtzentrum vorstieß, dem Beispiel folgend der allmontäglichen gewaltigen Demonstrationszüge in den sächsischen Städten. Kombinate und Kleinbetriebe stellten die Arbeit ein, der Straßenbahnverkehr kam zum Erliegen. Auf der Straße Unter den Linden bildeten sich Diskussionsgruppen und die Plätze der Hauptstadt waren bald schwarz von Menschen.
    Als Täve und Willi zum Leninplatz vordringen, sind junge Leute bereits am Werk, die kommunistischen Symbole Hammer, Zirkel, Ährenkranz von öffentlichen Gebäuden mit dicken Knüppeln und Eisenstangen herunterzuschlagen, wobei sie einen Heidenlärm vollführen, der aber die Rufe aus dem Menschenauflauf nicht zu übertönen vermag: „Gorbi, Gorbi, Gorbi“, „Demokratie jetzt“ und „Wir sind keine Rowdies!“ Die Menge schreitet in noch ein wenig abwartender Haltung, da an den Häuserwänden die Staatsgewalt demonstrativ aufmarschiert, die jedoch, außer dass sie die Jugendlichen an ihrer zerstörerischen Randale zu hindern sucht, tatenlos zusieht, wie der Zug der Menschen zu rollen beginnt und sich lawinenartig vergrößernd in Richtung Alexanderplatz zieht. Eine Leuchtschrift mit den Neon-Buchstaben „SED“ birst klirrend unter Steinwürfen aus den Reihen der vorbeiziehenden Leute und unter allgemein beifälligem Klatschen und Anfeuerungsrufen. „Schließt euch an“, skandieren die Freiheitsmarschierer und singen: „Haltet fest zusammen!“ und: „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!“ sowie: „Alle, die stehen und gehen, sollen sich widersetzen!“
    So war das also. Oder etwa nicht? Alles Schnee von gestern!?
Wer da will wissen, wer dieser Romboy ist, von dem Huschke La Bruyère nach der Räuber -Premiere sprach? Du? Det kannste hab´n, nischt leichter als det. Aber auf eijene Jefahr!  
    Dr. Urban-Helge Romboy, seines Zeichens Justitiar der Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft, war ein vielbeschäftigter Mann nicht nur am Sitz des Spezialinstituts, sondern auch stellvertretender Direktor des Landwirtschaftsmaschinenkombinats. Er hatte an einer LPG in Mecklenburg als Buchhalter begonnen, füllte seine heutigen Funktionen nur mehr pro forma aus und hatte strenggenommen seit geraumer Zeit nur mehr einen einzigen Klienten besessen: Erich Honecker. Sein augenblicklicher Zeitmangel war
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