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Lesereise Rom

Lesereise Rom

Titel: Lesereise Rom
Autoren: Klaus Brill
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italienischen Prototyps, des furbo, des gerissenen Schlaumeiers – in unzählige politische Affären verwickelt und doch über sechsundzwanzig parlamentarische Untersuchungsausschüsse nicht gestürzt. »Es ist noch niemandem gelungen, mich in den Sack zu stecken«, hat er einmal gesagt.
    Das war lange vor jenem 26. September des Jahres 1995, an dem er in der sogenannten Aula Bunker, dem großen Gerichtssaal im palermitanischen Hochsicherheitsgefängnis Ucciardone, den Platz des Angeklagten einnahm und auf den hellbraun glänzenden Tisch sein schweres Notizbuch legte. Straff hatte er den Oberkörper aufgerichtet, und niemand hat ihn in all den Sitzungen, die seither in diesem Verfahren in Palermo und in einem wenig später eröffneten zweiten Prozess in Perugia stattgefunden haben, je in der Pose des Verzweifelten gesehen.
    Andreotti wahrte Haltung. Lichtjahre schien er entfernt von all den ungeheuerlichen Skandalen, die in diesen Prozessen zur Sprache kamen. Es macht den Fall Andreotti zu einer italienischen Monstrosität, dass die Ungeheuerlichkeit der Vorwürfe so schwer in Einklang zu bringen ist mit dem Bild des stillen, hilfsbereiten, bescheidenen Pedanten, der in einem Umfeld unabwendbarer Verspätungen so viel auf Pünktlichkeit hielt und der jeden Abend etwas in sein Tagebuch einträgt. Wie viele tausend Briefe hat er im Lauf seines politischen Lebens nicht gewissenhaft beantwortet, wie viele tausend Bittsteller hat er nicht in seinem legendären Büro an der Piazza San Lorenzo in Lucina in der Altstadt von Rom empfangen? Wie vielen Menschen hat er nicht geholfen?
    Andreotti, der Fleißige, der Umtriebige und Belastbare, schöpft seine staunenswerte Vitalität nach eigenen Worten aus einem intensiven, kurzen Schlaf. Als ihm im Frühjahr 1993 die Eröffnung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens seinen Schlaf zeitweise raubte, fürchtete er, verrückt zu werden. Später musste er sich einen Tumor aus dem Kopf entfernen lassen, seine Frau erlitt einen Nervenzusammenbruch. Doch hat ihn all dies nicht abgehalten, sich rasch im öffentlichen Leben zurückzumelden – er kann es offenkundig nicht entbehren, gerade auch in schweren Zeiten nicht.
    Giulio Andreotti ist seit 1991 Senator auf Lebenszeit. Dies ist ein Ehrenamt, in das man vom Staatspräsidenten wegen höchster Verdienste um das Vaterland berufen wird. Der Philosoph Norberto Bobbio und der Fiat-Chef Giovanni Agnelli etwa sind in gleicher Weise ausgezeichnet worden. Keinem Inhaber wird es verübelt, wenn er den parlamentarischen Austragsjob mit leichter Hand versieht, doch war Andreotti, der nie inhaftiert wurde, auch in den Jahren, da seine Prozesse bevorstanden oder liefen, häufig auf Plenarsitzungen des Senats und bei Ausschussberatungen anzutreffen. Man sah ihn in Papieren blättern und merkte an seinen Wortmeldungen, dass er den Gang der Dinge genauestens verfolgte. Ein Vollprofi, reich an Erfahrungen und Kenntnissen, war da in Aktion. Als ließe ihn der Wirbel um seine »persönlichen Angelegenheiten« ziemlich kalt, befasste er sich noch kurz vor Prozessbeginn ostentativ mit Staatsverträgen, reiste nach Damaskus zu Staatschef Hafis al Assad, nahm in New York an einer Parlamentarierkonferenz teil und ließ sich in Texas vom früheren Präsidenten George Bush bewirten.
    Die Außenpolitik ist das weite Feld, auf dem sich Giulio Andreotti gern noch etwas nützlich gemacht hätte. Dass er just am 26. September 1995 in Palermo zur Prozesseröffnung erscheinen musste, war ihm nicht nur deshalb zuwider, weil sich tags zuvor zum fünfzigsten Mal der Tag gejährt hatte, an dem er erstmals als Parlamentarier tätig geworden war, 1945 in der beratenden Versammlung, die den Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg in die Wege leitete. Es ärgerte ihn auch deshalb, weil er für den Tag danach vom früheren sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow zu einem Forum nach San Francisco geladen war. Dies mitzuteilen, war ihm wichtig, denn derlei bedeutende Verpflichtungen kennzeichnen ihn als einen, der wirklich Wichtigeres zu tun hat, als sich mit Mafia-Vorwürfen zu befassen. Es ließ ihn als Mann mit gutem Gewissen erscheinen – und die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als belanglos.
    Doch sie waren es keineswegs, und Andreotti musste sich notgedrungen nun doch mit der Mafia beschäftigen, einem Thema, von dem er »nie viel gewusst« haben will. Er las Bücher und Zeitungsartikel, und er studierte die vielen tausend Seiten, die die Staatsanwälte Guido
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