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Lesereise Rom

Lesereise Rom

Titel: Lesereise Rom
Autoren: Klaus Brill
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würde, dann hätte ich wahrscheinlich gesagt: Nein danke, ich mache lieber etwas anderes.«

Ein Quertreiber aus Passion
Das politische Unikum Marco Pannella und seine Radikale Partei
    So kennt man ihn von seinen Auftritten auf den Plätzen Roms und aus dem Fernsehen: erregt, erzürnt und immer am Reden. Wo Marco Pannella auftritt, kommt so leicht niemand anderer zu Wort, und es wird von wenig anderem gesprochen als von Politik. Pannella ist einer jener Menschen, denen der unbezähmbare Drang nach Selbstdarstellung immer neue Einfälle eingibt, wie auch in auswegloser Lage noch die allgemeine Aufmerksamkeit zu fesseln ist. Drum sieht man ihn gelegentlich in abenteuerlichem Aufzug, mal als leibhaftiges Gespenst und mal als Weihnachtsmann verkleidet, mal verhärmt und abgemagert, wenn er sich gerade wieder in einem Hungerstreik befindet. Pannella ist der Mann, der mit Piratenakten das politische Italien eine Tugend üben lässt, die auf der Apenninhalbinsel eine lange Tradition hat – die Toleranz.
    Außenseiter und Quertreiber stoßen im Heimatland des Individualismus eher auf Bewunderung denn auf strikte Abwehr, und insoweit ist Marco Pannella eine überaus italienische Erscheinung. Seit vier Jahrzehnten tummelt er sich auf der politischen Szene als ein Korsar, dessen Zügellosigkeit nur noch von seiner Unberechenbarkeit übertroffen wird. 1930 in den Abruzzen mit dem aparten Vornamen Giacinto als Sohn eines Ingenieurs geboren, warf er sich schon als Jura-Student in die Politik und betätigte sich zunächst in der Liberalen Partei. Als diese einen Rechtskurs einschlug, scherte er aus und gründete 1955 zusammen mit anderen die Radikale Partei, die sich zunächst als außerparlamentarische Bewegung verstand und für Bürgerrechte, für die Rechte der Frauen und die Rechte missachteter Minderheiten, etwa der Homosexuellen und der Kriegsdienstverweigerer, ebenso eintrat wie sie den Hunger in der Dritten Welt zum Thema machte. Mahatma Gandhi ist ihre Symbolfigur, die Gewaltlosigkeit ihr Programm.
    Pannella wurde früh die dominierende Figur und exponierte sich durch Hungerstreiks und spektakuläre Protestaktionen. In Prag und Sofia demonstrierte er 1968 gegen die kommunistische Diktatur und wurde verhaftet, in Rom ließ er sich festnehmen und strafrechtlich verfolgen, weil er öffentlich Haschisch rauchte, um eine Lockerung der Drogengesetze zu propagieren. Und ohne Ende empört er sich darüber, dass die staatliche Fernsehanstalt RAI und die Presse seinen Aktivitäten nicht soviel Platz einräumen mochten, wie er dies in seinem übersteigerten Geltungsdrang für angemessen hält.
    Nicht nur, dass er und seine Anhänger mit Transparenten vor Zeitungshäusern aufmarschierten oder Fernsehstudios besetzten. Sie traten auch nackt auf, und längst ehe Greenpeace vorführte, dass im TV -Zeitalter auch mit Happening-Aktionen Politik zu machen ist, erwies Pannella sich als ein Profi der effektvollen Inszenierung. 1974 etwa nahm er neunzig Tage lang nichts anderes zu sich als gezuckerten cappuccino und zwang damit am Ende die RAI , eine Sendung mit der Liga für die Ehescheidung zu machen. 1978 trat er im Fernsehen stumm mit einem Knebel auf, um vorzuführen, dass man ihn nicht zu Wort kommen lasse. 1995 begab er sich für vierundzwanzig Tage in einen Hungerstreik und nahm sechs Tage auch keine Flüssigkeit zu sich, um gegen Äußerungen des Staatspräsidenten Oscar Luigi Scalfaro über die Medienwelt zu protestieren, die ansonsten niemandem aufgefallen waren. Am Ende kam er ins Krankenhaus, in einem TV -Interview präsentierte er sich dort mit eingefallenen Wangen und stechendem Blick, sodass die Nation ernstlich um sein Überleben zu bangen begann. Pannella brach aber selbstverständlich rechtzeitig ab, um sich dem Land zu erhalten und füllte danach ein ganzes Buch mit seinen Kommuniqués und Interviews und den Presseberichten über die Aktion.
    Aufsehen zu erregen ist ihm Bedürfnis und Methode zugleich. Dies zeigte er auch im Parlament, wo die Radikalen 1976 erstmals einziehen konnten. Um den linksradikalen Ideologen Toni Negri vor der Justiz zu schützen, ließ Pannella ihn 1983 auf der Liste der Partei in die Abgeordnetenkammer wählen, Negri aber floh bald darauf nach Frankreich und kehrte erst 1997 freiwillig zurück – ins Gefängnis. 1987 stellten die Radikalen, wieder einmal auf Spektakel bedacht, den Porno-Star Ilona Staller (»Cicciolina«) auf, und sie bekam tatsächlich einen Sitz. Italien gönnte sich eine
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