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Lesereise Rom

Lesereise Rom

Titel: Lesereise Rom
Autoren: Klaus Brill
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und dem Mafiaboss Pippo Calò der Beihilfe zum Mord an dem Journalisten Mino Pecorelli angeklagt. Dieser hatte 1979, ehe er von Helfern der Mafia umgebracht wurde, mit der Enthüllung unliebsamer Details zur Entführung und Ermordung des christdemokratischen Parteichefs Aldo Moro gedroht; auch Andreotti hätte von einer solchen Veröffentlichung Schaden für sich befürchten müssen.
    Ist es denkbar, dass all diese Vorwürfe wahr sind? Ist es denkbar, dass der fromme Christdemokrat Giulio Andreotti der geheimnisvolle »große Alte« war, der Regisseur der Finsternis, der die Nachtseite der italienischen Nachkriegszeit beherrschte? Ist es denkbar, dass ein Mensch so tief in sich selbst gespalten ist und ein solches Doppelleben führt?
    Oder aber ist Andreotti zur Zielperson des abgefeimtesten Komplotts geworden, Opfer einer Mafia-Intrige ohne Beispiel, gesteuert über ausgestiegene Mafiosi, die als Belastungszeugen lügen, dass sich die Balken biegen? War dies gar ein politischer Prozess, den man ihm da gemacht hat? Andreotti selber sieht es so. Er sei kein Mafioso, erklärte er, er kenne keine Mafiabosse, er sei schon vor der Zusammenarbeit mit dem Sizilianer Salvo Lima ein mächtiger Mann gewesen. Andreotti hat in Interviews mal Lobbys in den USA , mal ausländische Geheimdienste, mal die internationalen Drogenkartelle als mögliche Drahtzieher hinter der Verschwörung gegen ihn benannt. Man wolle sich dafür rächen, dass er als Regierender aktiv das organisierte Verbrechen bekämpft habe. »Man gibt mir die Schuld für alles außer für die Punischen Kriege«, sagte er.
    Und blieb auch als Angeklagter, der mit pedantischer Regelmäßigkeit an seinen Prozessen in Palermo und Perugia teilnahm, eine Zwitterfigur, der finsterste Verdächtigungen ebenso zuteil wurden wie strahlendste Sympathiebezeugungen. Da hatte er sich einerseits vor Gericht die Aussagen einer ganzen Reihe ausgestiegener Mafiosi anzuhören, die ihn mit detaillierten Beschreibungen schwer belasteten und etwa berichteten, in Mafiakreisen sei Andreotti »der Onkel« oder »der Buckel« genannt worden. Und er durfte andererseits Ende November 1995 im Vatikan bei einer internationalen Konferenz über Gesundheitsfragen eine Podiumsdiskussion leiten und mit Genugtuung erleben, dass Papst Johannes Paul II. ihn vor aller Augen mit bedeutungsschwerem Händedruck begrüßte.
    Einerseits erfuhr Andreotti im Gerichtssaal aus dem Mund früherer Mafiosi, dass einmal ein Attentat gegen einen seiner Söhne geplant worden war. Es sollte eine Strafe für ihn selbst sein, weil er in einer bestimmten Phase nicht dafür gesorgt habe, dass die im sogenannten Maxi-Prozess in Palermo verurteilten Verbrecher in zweiter Instanz freigesprochen wurden. Und andererseits konnte der Achtundsiebzigjährige im März 1997 in der Zeitung lesen, der Politiker Franco Marini als Chef der Volkspartei, einer der Nachfolgeparteien der Democrazia Cristiana, habe ihn als »einen der großen italienischen Führer der Nachkriegszeit« bezeichnet.
    Keineswegs rückte der Angeklagte Andreotti häufiger ins Bewusstsein der Öffentlichkeit als der einstige Politiker. Ende 1996 veröffentlichte er ein weiteres Buch mit Erinnerungen und demonstrierte damit, dass er durch die Prozesse keineswegs aus dem Takt seiner Produktivität gekommen war. Er gab auch laufend Interviews, schrieb Beiträge für Zeitungen und leitete über Jahre als Chefredakteur unverdrossen die katholische Zeitschrift 30 giorni, die allmonatlich einen Leitartikel aus seiner Feder bringt. Andreotti sprach im Senat, bestens vorbereitet wie immer, zur Erweiterung der Nato und brachte erfolgreich einen Antrag zur Verschiebung eines Referendums ein. »Mafioso in Palermo und Weiser in Rom, Mörder in Perugia und Staatsmann im Senat – nie war das Paradoxon Andreotti so klar wie gestern«, kommentierte dies am 4. April 1997 der Corriere della Sera .
    Es versteht sich von selbst, dass Andreotti auch all die Jahre lang weiterhin zur Messe gegangen ist. »Wenn ich den Glauben nicht hätte, dann würde ich verrückt werden«, hat er Don Canciani, seinem Pfarrer, gesagt. Und einmal, in einem seltenen Augenblick persönlicher Offenbarung, hat er auch eingestanden, wie viel Schmerzen ihm die Angriffe und Anklagen der vergangenen Jahre doch bereitet haben. Dem portugiesischen Rundfunksender Radio Renascenca sagte er im Dezember 1995: »Wenn ich damals, als Alcide de Gasperi mich bat, in die Politik einzutreten, gewusst hätte, wie das enden
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