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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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Menschen lebten damals in New York.
    Doch die Bedeutung des Seehafens New York wuchs rapide und mit ihm die Bevölkerung. Seit 1790 hatte sich New York verdreifacht und man rechnete damit, dass hier bis 1860 vierhunderttausend Menschen leben würden. Eine pessimistische Schätzung wie sich herausstellen sollte, es wurden mehr als achthunderttausend. Und so fassten Rutherford, De Witt und Morris einen gewagten, manche würden sagen wahnsinnigen Plan.
    Ein wenig nördlich der Canal Street, in Höhe der heutigen Houston Street, wurde ein Strich quer über die Insel gezogen. Von hier aus wurde sie bis zur heutigen 155th Street in zweitausendundachtundzwanzig gleichmäßige Parzellen aufgeteilt. Zwölf Avenues teilten das Land in Nord-Süd-Richtung, hundertsechsundfünfzig Straßen in Ost-West-Richtung. Hügel, Täler, Felsen, Gewässer, Bauernhöfe – sie alle waren nur Stolpersteine auf dem Weg zur Verwirklichung der großen kartesianischen Vision.
    Die Begründung für die Rasterung des zukünftigen Manhattan klang krämerisch-kleingeistig – die Matrix sollte den Verkauf und die Bebauung der Grundstücke erleichtern. Die Vermarktung New Yorks sollte so reibungslos wie möglich vonstatten gehen. Tatsächlich, so schreibt Rem Koolhaas in seinem Manhattan-Manifest »Delirious New York«, habe es sich jedoch, wenn auch unbewusst, um den ungeheuerlichsten prognostischen Akt in der Geschichte der westlichen Zivilisation gehandelt: »Die Bevölkerung war eine Projektion, die Gebäude waren Phantome, die Aktivitäten, die zwischen ihnen stattfinden sollten, existierten nicht.« New York war, so Koolhaas, eine Geisterstadt der Zukunft.
    Somit glaubten die Planer, enge Parameter für das geschaffen zu haben, was Manhattan einmal werden würde. Der Raster, so schrieben sie, werde rechtwinkelige Gebäude produzieren, billig zu bauen und praktisch zu bewohnen. Manhattan sollte eine durch und durch rationale, monotone Stadt werden.
    Stattdessen wurde die Insel zum größten Chaos der westlichen Hemisphäre. Der Raster verhinderte die Planung und Gestaltung kompletter Viertel oder Bezirke. Architektonische Differenzierung blieb auf die Grundeinheit des Rasters beschränkt: den Block. Dort brach sie sich jedoch umso machtvoller Bahn. Jeder Block von Manhattan ist ein eigenes Universum, ein eigenes symbolisches System, das seine Bedeutung nicht zuletzt aus dem harschen Kontrast mit dem Nachbarn gewinnt.
    Charakteristisch für New York blieb dabei, im kleinen wie im großen Maßstab, der utopische Geist. Jeder Block ist, so wie der Raster insgesamt, eine Vision von der Stadt der Zukunft. Das Rockefeller Center ist die Idee der autarken Stadt in der Stadt, das Empire State Building das nackte, unkontrollierte Unbewusste der technisierten Moderne, die zeigen will, was sie kann. Das Dakota Building und das Waldorf Astoria sind Visionen des Wohnens und Lebens in der Zukunft, die UNO soll die reine Vernunft einer aufgeklärten Menschheit verkörpern, die Radio City Music Hall sollte Unterhaltung und Massenkommunikation revolutionieren.
    Die Ironie bei all dem war freilich, dass im Raster all die Utopien, die von sich glaubten, das letzte Wort zu haben, gleichberechtigt nebeneinander standen. Koolhaas spricht von einer paradoxen »Tradition des letzten Wortes«. Der Raster ließ jedoch nicht zu, dass eine Vision sich durchsetzt, es hat die Stadt radikal demokratisiert. New York hat kein Zentrum, kein Ort ist gegenüber anderen privilegiert.
    Davon war auch die neuartige urbane Erfahrung geprägt, die New York anzubieten hatte. Von Block zu Block, von Nachbarschaft zu Nachbarschaft ist New York anders, der Raster produziert harsche kulturelle und ethnische Brüche und Kontraste. Die moderne Stadt ist nicht anders zu begreifen denn als fragmentierte Erfahrung, so wie der Jazz oder die Collage oder der moderne Roman. In New York zu sein, ist eine Erfahrung, die nie ganz aufgeht, für die es keine Formel gibt, aber sie ist dennoch ganz eigen, mit nichts anderem vergleichbar.
    Nun ist jedoch das Jahrhundert des Manhattanismus, das 20. Jahrhundert, vorbei. Der Raster hat sich wenigstens in Nordamerika als stadtplanerisches Prinzip durchgesetzt – mit unterschiedlichem Erfolg. Anderswo ist man davon wieder abgekommen.
    New York wird den Raster jedoch nicht mehr los. Versuche, wie die des Stadtplaners Robert Moses zur Mitte des 20. Jahrhunderts, es zu durchschneiden, sind auf heftigste Widerstände gestoßen. Moses wollte die gesamte Stadt
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