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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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großräumig neu konzipieren und ordnen, doch er scheiterte letztlich am Widerstand des Rasters. Durchgesetzt hat sich stattdessen die Philosophie seiner erbittertsten Gegnerin Jane Jacobs, die in ihrem Buch zum »Leben und Tod amerikanischer Städte« die Kleinteiligkeit und die polyphone Vielfalt, die der Raster gebiert, als Quell urbaner Lebendigkeit erkannte.
    Selbst dort, wo sich das Prinzip Moses durchgesetzt hat, wird es heute, so gut es geht, revidiert. Am Lincoln Center etwa, wo man die 65th Street, bislang eine tote Autorampe, wiederbelebt und das gesamte Gelände nach allen Seiten zur Stadt hin geöffnet hat. Auch am alten World Trade Center im südlichen Manhattan hatte man ganz im Sinn des Brutalisten Moses das Raster ausradiert. Inmitten des neuen World-Trade-Center-Geländes feiert es jedoch ein Comeback. Es war eines der wenigen Elemente des neuen Bebauungsplans, über das nicht gestritten wurde.

Provinzposse in der Weltmetropole
Wie das Gerangel um Ground Zero ein ganzes Viertel zehn Jahre lang lahmgelegt hat
    Minas Polychronakis ist alt geworden in den letzten Jahren, seine Augen haben den Glanz verloren, und wenn er spricht, ist seine Zunge so schwer wie nach einer Flasche Retsina. Er sitzt zusammengesunken in der Ecke seines Ladens an der Wall Street, und wenn ein Kunde hereinkommt, hebt er kaum den Blick.
    »Besser«, sagt er, wenn man ihn fragt, wie es ihm geht. Doch man mag ihm das nicht so recht glauben. Der Fünftagebart des siebzigjährigen Griechen, das strähnige, fettige Haar, die Flecken auf seinem Gesicht sagen etwas anderes. »Es gibt wieder Hoffnung«, fügt er an. Doch man hat nicht das Gefühl, dass dieser Mann noch aus tiefstem Herzen hoffen kann.
    Minas ist ein Opfer des 11. September 2001, einer, der überlebt hat und der doch nicht überlebt hat. Er hatte ein Schuhgeschäft im Tiefgeschoss des World Trade Center, er war 1977 einer der Ersten, die dort eine Ladenfläche angemietet hatten. Es war eine Goldgrube, er kam mit dem Polieren und dem Besohlen gar nicht nach. Drei Schuhputzer hat er damals beschäftigt, die jeden Tag von neun Uhr morgens bis abends um acht die Pumps und die Halbschuhe der Büroangestellten der Zwillingstürme pflegten. Doch dann kamen die Flugzeuge. Minas hatte noch nicht geöffnet an jenem Morgen, das hat ihm das Leben gerettet. Aber er verlor alles.
    Weniger als zwei Jahre später eröffnete er hier an der Wall Street gemeinsam mit seiner Frau, seinen Söhnen und seiner Tochter einen neuen Laden. Obwohl der Stadtteil damals ausgestorben war. Obwohl viele Banken weggezogen waren, weil sie Angst vor einem neuen Attentat hatten oder, was noch häufiger der Fall war, weil sie nur auf eine Gelegenheit gewartet hatten, das Viertel zu verlassen, das ohnehin im Niedergang war. Und weil es hier damals zu gespenstisch war.
    Doch Minas glaubte an das Viertel. Er glaubte, dass es wieder kommt. Und er glaubte, dass er so etwas wie eine Verpflichtung hätte, der Gegend treu zu bleiben: »Die Gegend war mein Leben lang gut zu mir«, sagt er. Doch die Gegend kam nicht zurück, jedenfalls nicht rasch genug für Minas. Als ich ihn 2007 besuchte, verdiente er tausend Dollar in der Woche. Er hätte fünftausend Dollar gebraucht, um seine Kosten zu decken. Eine halbe Million Dollar an Schulden hatte er angehäuft. Seine Pläne, sich mit siebzig zur Ruhe zu setzen, hatte er längst aufgegeben.
    Jetzt war es Frühjahr 2012 und mittlerweile standen die Dinge tatsächlich etwas besser hier unten am Südende von Manhattan, das sich noch lange nachdem die Straßensperren aufgehoben und die Nationalgardisten abgezogen waren, angefühlt hat wie ein Katastrophengebiet. Die alten Bankgebäude im Finanzdistrikt, oft prachtvolle Art-déco-Wolkenkratzer aus den zwanziger Jahren, waren wieder belebt. Findige Immobilieninvestoren hatten die Hochhäuser in Luxuswohnungen umgewandelt, nachdem die Bankhäuser verschwunden waren, um sich in midtown oder in den Vororten anzusiedeln. Sogar das hundert Jahre alte, ikonische Woolworth Building, der älteste und bis heute schönste Wolkenkratzer der Stadt, ist heute eine Wohnburg. Und langsam füllten sie sich auch, trotz der Wirtschaftskrise.
    Mit den Apartments kamen auch die Annehmlichkeiten in das Viertel, die zum Lebensstil der gut verdienenden Kleinfamilie gehören. Direkt neben Minas verkaufte die Firma Tumi Ledertaschen für den Geschäftsreisenden, das Basismodell ab sechshundert Dollar. Zwei Häuser weiter bot das Maison au Chocolat
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