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Lesereise New York

Lesereise New York

Titel: Lesereise New York
Autoren: Sebastian Noll
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die Demokraten in der Zwischenwahl die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Die konservative Bewegung erlebte auf dem Rücken der Tea Party ein Comeback.
    Gut eine Woche später war ich zu einem literarischen Salon bei dem Harlemer Schriftsteller Quincy Troupe eingeladen. Passend zur Wahl 2010 hatte Troupe den radikalen Essayisten, Dichter und Bühnenschriftsteller Ishmael Reed eingeladen. Reed hatte gerade einen Aufsatz in Buchlänge darüber verfasst, wie die von weißen Rassisten kontrollierten Medien Obama in den Rücken fallen und einen Erfolg seiner Präsidentschaft verhindern. »Barack Obama and the Jim Crow Media – The Return of the Nigger Breakers« hieß das Werk: Die Wiederkehr jener Schergen, die einst neu aus Afrika eingetroffene Sklaven gefügig machten.
    Das Buch war eine Klageschrift darüber, wie die Darstellung Obamas in den mainstrem media schon seit seinem Auftauchen auf der nationalen Bühne rassistisch gefärbt war. Reed wollte den Mythos der Konservativen demontieren, dass Obama ein Liebling der liberalen Medien sei und dass er deshalb Präsident geworden ist. Das Gegenteil sei der Fall gewesen – er habe trotz der rassistischen Berichterstattung die Wahl gewonnen. Und jetzt, da er Präsident sei, tue das politische Establishment alles, um ihn zu demontieren und zu kastrieren.
    Das Zwischenwahlergebnis, so schloss Reed, zeige, dass diese Kampagne langsam Erfolge zeitige. Man sei auf dem besten Wege dazu, den schwarzen Mann wieder aus dem Weißen Haus zu vertreiben. Das Einzige, was die Wahl Obamas bewirkt habe, sei es, die reaktionären Kräfte im Land zu stärken.
    An eine postrassische Utopie glaubte im Salon von Quincy Troupe niemand mehr. Die schwarzen Intellektuellen von Harlem waren davon überzeugt, dass der Rassismus unausrottbar tief in allen Institutionen, auf allen Ebenen der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt ist. »Natürlich hat man immer die Hoffnung, dass wir das überwinden können«, sagte Troupe bei einem Glas Wein nach Reeds Vortrag. »Aber ich bin da nicht sehr optimistisch.«
    Die Wahl Obamas begann in dieser Zeit immer mehr wie ein historischer Unfall auszusehen als wie ein historischer Durchbruch. Je länger Obama im Amt war, desto häufiger schienen die rassistischen Zwischenfälle im Land zu werden.
    So wurde im September 2011 in Georgia der schwarze Troy Davis trotz Petitionen von Amnesty International hingerichtet, obwohl es keine handfesten Beweise gegen ihn gab. Davis hatte angeblich einen weißen Polizisten erschossen. In der Vorwahl 2012 mockierten sich die demokratischen Wähler von West Virginia über Obama, indem sie zu vierzig Prozent für einen obskuren Gefängnisinsassen und gegen den Präsidenten stimmten. Der Häftling war natürlich nie ein ernsthafter Kandidat. West Virginia, ein traditioneller Südstaat, wollte lediglich sein Unbehagen mit dem schwarzen Präsidenten zum Ausdruck bringen.
    Im Frühjahr 2012 drohten die rassischen Spannungen im Land dann überzukochen. In Florida wird der unbewaffnete schwarze Jugendliche Trayvon Martin von einem Bürgermilizionär erschossen und für die meisten Kommentatoren ist sofort klar: Martin starb nur, weil er schwarz war. Der Generalverdacht der Kriminalität gegen Afroamerikaner rückt in das Zentrum der nationalen Debatte.
    Kurze Zeit später treffe ich an der 109th Street in East Harlem Aaron Brown, einen dürren, groß gewachsenen jungen Mann mit kurz geschorenem Kraushaar. Er ist adrett gekleidet, Strickjacke, brandneue Jeans, Prada-Slipper – ein starker Kontrast zur Gangster-Mode, die ansonsten in dieser Gegend von Männern seines Alters bevorzugt wird.
    Wir stehen vor dem Eingang eines Backsteinhochhauses, einer jener berüchtigten Sozialbausilos von Harlem, um die Touristen und Besucher aus downtown lieber einen weiten Bogen machen. Hier, im zwölften Stock, ist Aaron aufgewachsen und hier leben noch immer seine Mutter und sein vierzehn Jahre alter Bruder. Und hier ist er am 9. April 2011 verhaftet worden.
    »Ich habe im Eingang gestanden und darauf gewartet, dass mein Bruder runterkommt«, erinnert er sich. »Wir wollten in meine Wohnung in die Bronx fahren, um den Nachmittag zusammen zu verbringen.« Fünf Minuten habe er da gestanden, als die Polizisten vorfuhren und zu viert auf ihn zukamen, »wie eine Gang«. Brown wurde herumgeschubst, angeschrien, beleidigt, dreimal bis auf die Unterhose durchsucht und schließlich in Handschellen abgeführt. Bis auf eine Dose Pfefferspray, die Brown zur
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