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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg
Autoren: René Freund
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Orientierungslicht, beim Leuchtturm ankommen, ist es bereits stockfinster. Neumond. Wir schauen über die Klippen des Kaps hinunter, doch wir können kein Wasser sehen. Der Abgrund ist unheimlich. Alles, was wir wahrnehmen, ist ein tiefes, rauschendes Schwarz. Es gibt keinen Zweifel: Wir sind am Ende der Welt angekommen.
In der Luft, 18. November
    Nacht. Landeanflug auf Marseille. In der Spiegelung des Fensters der kleinen Propellermaschine sehe ich mein Gesicht. Es könnte, unrasiert, wie es ist, auch einem mittelalterlichen Pilger gehören. Doch ich brauche nur das Blickfeld zu wechseln, und ich sehe: Propeller, das Lichtermeer der Millionenstadt, die beleuchtete, gigantische Hafenanlage; eine rote Lichterschlange, wohl ein Stau auf der Stadtautobahn … Drei Stunden im Flugzeug machen zwei Monate Gehen geografisch rückgängig. Was für wundersame Welten, in denen wir leben.
Im neuen Zuhause, drei Wochen später
    Liebe Ursula!
    Du kannst Dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr wir uns über Deinen Brief gefreut haben. Barbara hat einen kleinen Tanz aufgeführt – »Rate, wer uns geschrieben hat?!« Ich habe es nicht erraten.
    Fein, dass Du gut in Santiago angekommen bist … Weit über dreitausend Kilometer zu Fuß – das ist schon gewaltig. Wir haben uns auch sehr gefreut, dass Du am Ziel Marco wiedergetroffen hast. Die gemeinsame Wanderung nach Finisterre muss wunderschön gewesen sein. Schade eigentlich, dass wir uns dafür die Zeit nicht mehr genommen haben.
    Im Gegensatz zu Dir schien uns bei der Ankunft in Santiago die Vorstellung, alles wieder zurückzugehen, nicht wahnsinnig verlockend. Dank unserer authentica gewährte uns das Reisebüro 50 Prozent Pilgerrabatt, was den Flug in unser »Basislager« in Südfrankreich erschwinglich machte. Deine Busreise mit den vielen Pannen muss ja ganz schön anstrengend gewesen sein … Eine Woche von Galicien nach Bayern, das ist schon eine Leistung.
    Wir sind mittlerweile wieder einigermaßen resozialisiert. Obwohl – der Jakob verfolgt uns irgendwie. Wir sind jetzt draufgekommen, dass wir seit fünf Jahren in einem Ort wohnen, dessen Kirche dem heiligen Jakob geweiht ist. Und wenige Gehminuten von dieser Kirche entfernt befindet sich eine Quelle, die im Volksmund »Jakobsbründl« heißt!
    Liebe Grüße (Ultreïa sagt man jetzt wohl nicht mehr?), Barbara und René
Im neuen Zuhause, zwei Tage später
    Liebe Simone, lieber Jean-Pierre!
    Danke sehr für Euren so herzlichen Brief. Leider können wir Euch nicht auch ein so schönes Geschenk machen wie diesen Glimmerstein aus Castrojeriz – noch dazu so schön verpackt! Ihr seid so liebenswert!
    Der Weg hinter Ponte de Orbigo, wo wir uns getrennt haben, ist wunderschön: Rabanal, Cruz de Ferro, Cebreiro sind in jeder Hinsicht Höhepunkte des camino.
    Wie versprochen haben wir in Santiago ein Glas auf Euch getrunken. Wenige Tage später sind wir nach Österreich zurückgekommen, und es war ein bisschen eigenartig, das Meer und die Palmen gegen die Berge und zwanzig Zentimeter Neuschnee einzutauschen.
    Ihr fragt, wie lange der Weg jetzt insgesamt war. Es kann natürlich keine genaue Kilometerangabe für den Jakobsweg geben. Selbst bei den markierten Wegen gibt es verschiedene Varianten, wodurch auch hochkorrekte Pilger auf verschiedene Distanzen kommen werden. Auch in den Büchern schwanken die Kilometerangaben zwischen 1450 und 1550 Kilometern. Wir selbst lagen im guten Durchschnitt. Die genaue Statistik: 1501 km lang war unser Weg. Davon 727 in Frankreich und 774 in Spanien. 1138 Kilometer sind wir gegangen, 363 haben wir aus verschiedenen Gründen (kein Nachtlager, Regen, Erschöpfung, Verletzung) per Autostopp, Bus oder in Eurem »Pilgrimsmobil« zurückgelegt.
    Du fragst, liebe Simone, wie ich es angehen werde, mein Buch zu schreiben. Das frage ich mich auch. Ich habe gerade alle meine Notizen durchgesehen, alle Briefe und Aufzeichnungen … Die reichen für etwa drei Bücher. Ich gehe beim Schreiben den Weg tatsächlich jeden Tag neu, wobei sich seltsame Dinge ereignen. Manchmal friere ich zum Beispiel schrecklich, aber der Blick auf das Thermometer zeigt tadellose zwanzig Grad; oder ich bin plötzlich so müde, dass ich am Schreibtisch einschlafen könnte. Ich bin mittlerweile draufgekommen, dass jeder Tag irgendwo in mir gespeichert ist und dass ich die Gefühle, die ich an diesem Tag hatte, beim Schreiben sozusagen neu abrufe.
    Die größte Überraschung der Reise haben wir Euch aber noch nicht mitgeteilt. Wir
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