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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg
Autoren: René Freund
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überwinden. In der Gegend vor Villafranca (»der französischen Stadt«) dominiert schon wieder der Wein, und wir atmen richtiggehend auf.
    In Villafranca steht eine der berühmtesten Pilgerherbergen des Wegs, die von einer der berühmtesten Personen des Wegs betrieben wird: Es ist das refugio des Jesus Jato. Es besteht in erster Linie aus Zeltplanen und Plastikverdecken und zeichnet sich dadurch aus, dass es kein Wasser, kein Klo und keine Betten gibt. Dafür darf man die Gesellschaft von Jesus Jato und seiner Familie genießen. Jesus gilt als »Schamane«, und nicht wenige Legenden erzählen von seiner Heilkunst, die auch die marodesten Pilger wieder in Form gebracht habe. Auch er ist aber mittlerweile vom Pilgerboom eingeholt worden und zeigt uns stolz die neuen, luxuriösen (gemauerten!) Zimmer, die er einrichtet.
    Es ist Nachmittag, als wir in Villafranca ankommen, und wir möchten gerne noch weitergehen. Es gibt zwei Möglichkeiten, nach Trabadelo zu kommen: Entweder man geht im Tal, durch das die Schnellstraße führt, neben der gerade die neue Autobahn gebaut wird. Oder man macht die Fleißaufgabe, steigt steil auf den Bergrücken hinauf und geht die von Jesus Jato höchstpersönlich markierte Variante. Wir entscheiden uns für Letzteres, und wir bereuen es nicht: Zwar verschwinden wir zeitweise im überkopfhohen Ginster, dürfen aber fast zwei Stunden lang durch Kastanienwälder gehen. Wir sehen eine alte Frau, die die Früchte sammelt und ihren Esel damit belädt. Die Sonne scheint durch die goldenen Blätter. Die Szene hat etwas Unwirkliches, so schön ist sie.
    Die Wirklichkeit holt uns bald ein. In Trabadelo spürt man den Gegensatz zwischen dem traditionellen und dem modernen Spanien, zwischen arm und reich, zwischen Mittelalter und Neuzeit so deutlich wie selten: Während auf der zwanzig Meter entfernten Schnellstraße die Lastwagenkolonnen dahinrollen, während weitere zwanzig Meter daneben monströse Hightech-Baufahrzeuge die Natur dem Erdboden gleichmachen, geht ein Bauer mit zwei in ein Joch eingespannten Milchkühen durch die Hauptstraße von Trabadelo. Die Kühe, erklärt uns der Bauer, hätten den ganzen Tag gearbeitet. Sie seien müde, müssten aber noch gemolken werden. Die eine gehöre seiner Nachbarin, die habe er sich nur ausgeliehen. Morgen würde er seine eigene Kuh verleihen. Kühe zum Arbeiten? Esel als Fortbewegungsmittel? In der Welt, aus der wir kommen, verwendet man ein Joch allenfalls zum Dekorieren von Landgasthausstuben. Auch hier wird es bald so weit sein. Es kann nicht mehr lange dauern, bis dieses Dorf im Schatten der Autobahn verschwunden sein wird, bis nur noch eine Raststätte an Trabadelo erinnern wird.
    Ein Motel gibt es hier heute schon. Es heißt »Zur neuen Straße«. Damals war man noch stolz auf sie. Wir erreichen das Motel, als es bereits ganz finster ist. Schlechte Nachricht: Alle Zimmer sind mit Bauarbeitern belegt, und sonst gibt es in Trabadelo keine Übernachtungsmöglichkeit. In der Nacht an der Straße entlangzugehen kommt nicht in Frage, das wäre viel zu gefährlich. Wir müssen die Wirtin bitten, uns ein Taxi zu rufen. Zwanzig Minuten später sind wir in Vega de Valcarce. Das refugio ist besonders hässlich, das Essen im Restaurant der übliche zerkochte Fraß aus der Mikrowelle … Aber wir sind froh, heute überhaupt irgendwo untergekommen zu sein.
Alto do Poio, 10. November
    Heute steht eine mythische Etappe auf dem Programm: Über den 1300 Meter hohen Cebreiro wandern wir nach Galicien, in die »gallische«, »keltische« Provinz im Nordwesten Spaniens. Galicien galt den mittelalterlichen Pilgern als eine Art »geheiligtes Land« – mit dem Cebreiro war der letzte gefährliche Berg überwunden. Nun sah man die grünen Hügel eines Landes, in dem Wasser und Milch fließen. Der Eindruck lässt sich heute noch nachvollziehen. Blickt man von den Höhen des Cebreiro auf des Land hinunter, dann erfüllt einen eine große Zuversicht, so freundlich und üppig sehen die Wiesen mit den Steinmäuerchen und Waldstreifen aus. Ab hier wird Santiago spürbar. Das Gehen wird leicht. Wie ein Magnet scheint die heilige Stadt die Pilger anzuziehen, und man muss sich fast zusammennehmen, abends Rast zu machen. Wir haben von regelrechten »Gehräuschen« gehört, die manche Pilger in Galicien erfassen, die dann vierzig bis fünfzig Kilometer pro Tag zurücklegen und erst pausieren, wenn sie schon dem Zusammenbruch nahe sind.
    Der Aufstieg ist teilweise recht hart. Wir
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