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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Freund
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um, winkten und wissen nun endlich, was gemeint ist, wenn andere von den »Engeln des Weges« sprechen.
    Wir haben in der ganzen Zeit unserer Reise nicht so viele schöne historische Monumente gesehen wie mit den beiden: die Kirche von Santa María de la Victoria in Carrión de los Condes (mit diesem Ort sollte übrigens Kolumbus für die Entdeckung Amerikas abgefunden werden); San Tirso und San Lorenzo in Sahagún; das ehemalige Zisterzienserinnenkloster bei Mansilla de las Mulas, das Romanik, Gotik und Renaissance vereinigt und außerdem einen Rokokoaltar beherbergt, dessen Hässlichkeit die 87-jährige Dame, die uns führte, gar nicht genug anprangern konnte; San Miguel de la Escalada, eine mozarabische Klosterkirche, ein Wunderwerk erhabener Leichtigkeit; das romanische Zisterzienserinnenkloster in Gradefes, wo die Nonnen, als wir die Kirche betraten, gerade ihr gesungenes Mittagsgebet anstimmten. Wie schön waren die vielen unbeschwerten Spaziergänge durch León – für uns die schönste Stadt auf dem Weg; wie schön die Fenster der gotischen Kathedrale, als die Sonne hereinschien; wie schön die Stiftskirche San Isidore und die weltberühmten Wandmalereien im Kreuzgewölbe des romanischen Panteón Real, angesichts derer wir uns fragten, was eigentlich unsere Generation der Menschheit hinterlässt … All das wäre uns durch das Gehen entgangen, denn zu Fuß macht man erstens freiwillig sehr ungern Umwege, und zweitens ist man abends zu müde, um sich noch lange um Kunst und anderen Luxus zu kümmern.
    Erholt und neu motiviert machten wir uns in Hospital de Orbigo wieder auf den Weg.
Astorga, 6. November
    Liebe Michi!
    Unsere Kilometerstatistik ist in den letzten Tagen gehörig durcheinandergeraten (siehe Renés Aufzeichnungen). Simone und Jean-Pierre, mit denen wir so angenehme Tage verbracht haben, sind so unglaublich liebe und herzliche Menschen. Gelegentlich geraten sie sogar über sich selbst in Rührung. Jean-Pierre hat zum Beispiel eine wunderschöne (und ziemlich komplizierte) Geschichte erzählt, die ihm letztes Jahr auf dem Weg passiert ist. Da haben sich in einem refugio zufällig zwei Männer wiedergetroffen, die während des Weltkriegs bei derselben Ziehmutter in der Schweiz aufgewachsen waren. Als Jean-Pierre erzählt hat, wie die »Brüder« einander nach fünfzig Jahren schluchzend in die Arme gefallen sind, haben auch seine Frau und er leise geweint. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten auch zu schluchzen begonnen.
    Wir hatten richtig »Urlaub vom Pilgern«. Es war eine schöne Abwechslung, tagsüber nicht zu gehen und nachts zu schlafen, in richtigen Hotels mit Warmwasser, Seife, Handtuch und einmal sogar Fernseher, in dem René allerdings tatenlos zusehen musste, wie »El Sturm Graz« gegen Real Madrid ungefähr 1:18 verloren hat (wenn ich das richtig verstanden habe).
    Jetzt sind wir in Astorga, wo eine ziemlich überladene Kathedrale steht, und daneben ein Bischofspalast, eine geschmacklose neugotische Scheußlichkeit, die Antonio Gaudí zu verantworten hat, der doch eigentlich ein Guter war. Wir haben hier in einer kleinen, vergammelten Pension Unterkunft gefunden – stell Dir vor, das refugio war voll! Schweizer, Kanadier, Brasilianer, Spanier, Franzosen … Über zwanzig Leute!
    Elf bis zwölf Tage trennen uns von Santiago, und, ganz ehrlich gesagt, eine Wehmut, dass der Weg nun bald zu Ende sein soll, kommt nicht in mir auf. Eher eine Art Ungeduld – zu Hause ein neues Zuhause beziehen, sich in der Firma wieder sehen lassen, Geld verdienen … Manche beginnen zu gehen und können nie mehr aufhören. Ich bin durch das Gehen plötzlich häuslich geworden. Sehne mich nach Wäschewaschen, Betten überziehen, Kochen (Geflügelsuppe mit Bröselknödel!) und anderem Unsinn, der mich noch nie sehr interessiert hat. Aber vielleicht gibt sich das ja wieder. Alles Liebe, Deine Ba.
Rabanal, 7. November
    Der Weg zwischen Astorga und Rabanal hat uns sehr gefallen. Man verlässt die öden Felder und taucht in Pinienwälder ein. Die Berge kommen endlich näher, und das tut wohl nach diesen hoffnungslos langen Ebenen. Kurz vor Rabanal weisen einen die typischen gelben Pfeile an, einen kleinen Umweg zu gehen, um die uralte »Pilgereiche« zu begrüßen, deren Stamm man zu zweit nicht umfassen kann.
    Freilich haben wir heute auch ein bisschen Heimweh gehabt: Wir wissen die Freundesrunde um den warmen Ofen im Waldviertel sitzend und die traditionelle Martinigans essend. Es ist vielleicht kein

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