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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg
Autoren: René Freund
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Santiago zu sein, bei der der fünfzig Kilogramm schwere Weihrauchkessel von sechs starken Männern über den Gläubigen geschwenkt wird (es heißt, dieser Brauch entstand, um den Pilgergeruch zu neutralisieren). Wir haben kurz überlegt, das auch zu machen – aber warum sollten wir uns ausgerechnet am letzten Tag hetzen? Wir haben heute am Weg eine Gedenktafel gesehen. Unter einem seltsamen Denkmal, einem Paar bronzener Turnschuhe, steht da: »Guillermo Watt, Pilger. Zu Gott heimgekehrt im 61. Lebensjahr, einen Tag vor Santiago, am 25. August im heiligen Jahr 1993.«
    Wir sind schon ziemlich aufgeregt. Wird uns Santiago gefallen? Wer weiß. Sicher ist, dass wir noch weiter wollen, an die Atlantikküste, die das wahre Ende des Weges darstellt, weil sie das Ende der Welt ist und deshalb auch »Finisterre« heißt.
    Und dann kommen wir auch schon wieder zurück! Ich freue mich schon sehr darauf! Alles Liebe, Deine Ba.
Santiago, 16. November
    Dieses Wort »Santiago« schreibe ich doch mit einem feierlichen Gefühl. Wir sind angekommen. Plötzlich haben wir den Eindruck, dass die Zeit unserer Pilgerreise unglaublich schnell vergangen ist.
    Bereits in der Früh haben wir diesen Tag als außergewöhnlich empfunden. Es ist schon etwas Besonderes, zur letzten Etappe einer so langen Reise aufzubrechen, die letzten zwanzig von weit über tausend Kilometern zu gehen. Wir sind fröhlich.
    Der Weg ist wenig spektakulär, sieht man vielleicht von den vielen Eierschwammerl (Pfifferling)-Kolonien ab, die wir in den ausgedehnten Eukalyptuswäldern eigentlich nicht vermutet hätten. Was uns ebenso überraschte: dass plötzlich ein Flugzeug mit ohrenbetäubendem Krach direkt neben uns landete. Wir hatten gewusst, dass der Pilgerweg am internationalen Flughafen von Santiago vorbeiführt. Aber so nah …
    Die Kilometer schwinden heute ein bisschen schneller als sonst.
    Alle Orte, die nun am Weg liegen, sind eng mit Pilgertraditionen verbunden. Zum Beispiel Lavacolla. Der Name leitet sich von »lavar«, waschen, und von »cola«, Schwanz, ab, und sagt viel über die hygienischen Verhältnisse der mittelalterlichen Pilger aus. Der Monte del Gozo, heute fast ein Vorort von Santiago, heißt, wörtlich übersetzt, Freudenberg. Hier sahen die Pilger zum ersten Mal die Türme der Kathedrale von Santiago, und, so berichten zahlreiche Überlieferungen, brachen vor Freude und Dankbarkeit in Tränen aus. Die Türme der Kathedrale von Santiago sieht man heute vom Monte del Gozo aus nicht mehr. Sie sind von Hochhäusern verdeckt. Der erste Blick auf die gelobte Stadt ist enttäuschend: Bis auf ein paar Villen, viele Wohnblocks und ebenso viele Baukräne ist da nicht viel zu sehen.
    Wir machen auf dem Monte del Gozo bei der Kapelle San Marcos noch eine kleine Pause, die letzte unserer Pilgerfahrt. Beide hängen wir unseren Gedanken nach und starren apathisch auf ein modernes Denkmal, das an die Messe erinnert, die der Papst hier im Jahr 1989 vor einer halben Million Pilgern gehalten hat.
    Natürlich, der Einzug in Santiago ist mit zu vielen Erwartungen verbunden. Er kann ihnen gar nicht gerecht werden. Von Freudentränen hatten wir gehört, von nächtlichen Festen auf dem Monte del Gozo, von Umarmungen zwischen wildfremden Menschen, von religiösen Ekstasen. Es ist ein bisschen so, wie wenn einem viele Menschen von einem Film vorschwärmen und zum Teil schon Szenen nacherzählen: Man geht dann ins Kino und ist zwangsläufig enttäuscht.
    Das Ortsschild, auf dem schlicht »Santiago« steht, als wäre das gar nichts, liegt an einer Schnellstraße, am Ende einer Brücke über die Stadtautobahn. Auch die lauteste Freude wird hier vom Straßenlärm übertönt.
    Bei der Porta do Camino beginnt die historische Altstadt mit ihren schmalen, verwinkelten Gässchen, in denen man sich gleich verirrt, aber trotzdem wohlfühlt – ein höchst angenehmes Labyrinth.
    Die Erwartungen steigen natürlich, und sie werden natürlich nicht erfüllt. Wir umarmen einander, als wir beim Kilometer null, auf der Plaza Obradoiro vor der Kathedrale in den Boden eingelassen, ankommen. Aber es ist uns gleichzeitig klar, dass dieses Ankommen uns nicht viel bedeutet. Wir sind gegangen, um den Weg zu gehen. Der Kilometer null stellt für uns keine »Erlösung« dar, weil wir den Pilgerweg nie als selbst auferlegte Strafe angesehen haben – auch wenn er manchmal Anstalten zu machen schien, dazu zu werden. Ekstase? Hochstimmung? Nein. Was für eine Art von Ziel sollte für zwei
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