Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg
Autoren: René Freund
Vom Netzwerk:
Nichtkatholiken wie uns auch die prunkvolle Kathedrale eines machtvollen Heiligen sein? Nein, das Ziel ist sicher nicht das Ziel. Aber eines ist gewiss: Der Weg ist der Weg. Und wir sind dankbar für alle Erlebnisse, die er uns beschert hat.
    Wir betreten die Kathedrale durch das Nordportal, drehen eine Runde um den Chor, steigen dann quasi in den Hochaltar hinein, zu der silbernen Truhe, in der die Reliquien Jakobs angeblich ruhen, umarmen traditionsgemäß die Heiligenstatue hinterrücks und nähern uns dann dem Westportal, dem berühmten Portico de la Gloria. Hier legen wir wie Millionen Pilger seit vielen Jahrhunderten die Hand an die Mittelsäule, wo sich eine beachtliche Vertiefung gebildet hat. Danach erweisen wir dem großartigen Architekten und Bildhauer, Meister Mateo, unsere Reverenz, indem wir an der Säule, in der sich deren Erbauer angeblich selbst in Marmor verewigt hat, unsere Stirn dreimal gegen die seine legen, damit etwas von seiner Weisheit auf uns übergehe. Dann stecken wir unsere Hände in die Löwenmäuler, die links und rechts die Säule hüten. Ob das alles dem »richtigen« Ritual entspricht, ist schwer zu überprüfen. Wir haben es einfach nachgemacht. (Auch David Lodge beschreibt in seinem Roman »Therapie« das Ritual an der Jakobssäule: »Bereitwillig legte ich meine Stirn an das Marmorhaupt. Nicht alle Besucher waren sattelfest in diesen Ritualen. Hin und wieder schlug einer mit dem Kopf gegen die Säule unter dem Standbild des heiligen Jakob, während er die Finger in die Vertiefung legte, und dann folgten die anderen prompt seinem Beispiel. Ich hätte gerne gewusst, ob bei einem bayerischen Schuhplattler dieser Nachahmungseffekt auch eingetreten wäre, war aber dann doch zu feige, die Probe aufs Exempel zu machen.«)
    Wir treten wieder ins Freie und lassen die Kathedrale von Santiago erstmals im Osten. Wir setzen uns, müde und zufrieden, vor ein Café. Die Tische stehen, windgeschützt, in der Abendsonne. Wir bestellen Tee und tarta de Santiago, einen wunderbaren, saftigen Mandelkuchen. Beides schmeckt uns so gut, dass wir das »Menü« noch einmal bestellen. Danach sind wir satt und trinken den Cognac, den mir Charles bei Los Arcos anvertraut hat, möglichst diskret aus dem Fläschchen. Wir finden ein billiges, weil völlig heruntergekommenes Zimmer mit Blick auf einen Turm der Kathedrale.
Santiago, 17. November
    Die Pilgermesse, die jeden Mittag in der Kathedrale von Santiago stattfindet, ist die erste Messe unserer Pilgerfahrt, die wir vorzeitig verlassen. Sie wird von einem dicken Priester, der ununterbrochen ins Mikrofon hustet, mit völlig ausdrucksloser Stimme heruntergeleiert. Es scheint, als wollte er beim Beten Geschwindigkeitsrekorde brechen. Ist Santiago auch der spirituelle Nullpunkt?
    Im zentralen Pilgerbüro der Stadt erhalten wir unsere authentica, die uns als wahre Pilger ausweist. Die nette junge Dame im Pilgerbüro bewundert unsere vielen Stempel und sieht in einem Lexikon nach, um unsere Namen ins Lateinische zu übersetzen … Omnibus et singulis praesentes inspecturis, notum facit Barbarum et Renatum Freund hoc sacratissimum Templum pietatis causa devote visitasse … Jeder, der die letzten hundert Kilometer zu Fuß oder die letzten zweihundert Kilometer mit dem Rad gefahren ist, hat Anrecht auf die authentica. Sie berechtigt die ersten Pilger, die sich dort präsentieren, zu Gratismahlzeiten im Hostal de los Reyes Catolicos, einem prächtigen Renaissance-Bauwerk, heute das Fünf-Sterne-Parador-Hotel. Allerdings, so haben wir gehört, darf man als Pilger nicht in den prunkvollen Speiseräumen Platz nehmen, sondern wird in einem Hinterzimmer mit dem Menü der Angestellten abgespeist. Nett ist das immer noch von der Hotelleitung, aber die Sonne scheint so schön, dass wir lieber selbst bezahlte Tapas in einem Straßencafé zu uns nehmen.
    Wir fühlen uns eigenartig; angenehm, aber keineswegs in Hochstimmung. Es fehlt uns etwas. Nach einigem Nachdenken wissen wir, was: Das Gehen geht uns ab.
Am Ende der Welt, 17. November
    Der Autobus braucht gut zwei Stunden bis ans Ende der Welt. Es dämmert schon, als wir dort ankommen. Finisterre, galicisch Fisterra genannt, ist ein kleines Fischerdorf mit einem Hafen, in dem bunte Boote schaukeln, mit einem Strand und ein paar Palmen. Wir machen uns auf den Weg zu dem Leuchtturm, der am äußersten Ende des Kontinents steht. Die Straße dorthin ist länger, als wir gedacht haben. Als wir, geleitet vom blinkenden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher