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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg
Autoren: René Freund
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Glück hatten mit unseren Begegnungen …, wie viele Menschen wir kennengelernt haben … Und die Veränderung, von der alle reden? Wir merken nichts davon. Und doch sind wir uns sicher, dass diese Pilgerfahrt etwas in uns verändert hat. Wir können es nur nicht benennen. Und wir wollen auch nicht.
    Wir denken noch darüber nach, ob wir morgen bis Santiago gehen sollen – 38 Kilometer, das wäre machbar. Aber die Pilgertradition will es, dass man ausgeruht nach Santiago kommt. Auch wir wissen mittlerweile aus Erfahrung, dass die Erschöpfung in einer großen Stadt fast lähmend wirken kann. Wir beschließen deshalb, uns Zeit zu lassen und diese letzten zwei Tage zu genießen.
Arca, 15. November
    Liebe Michi!
    Heute sitzen wir in einem freundlichen, geheizten (!) refugio in Arca, zwanzig Kilometer von Santiago entfernt. Das ist schon ein aufregendes Gefühl, nach der ganzen Zeit so nah am Ziel zu sein. Von einigen Pilgern (viele sind zum zweiten oder dritten Mal unterwegs!) haben wir gehört, dass es auf der letzten Etappe vor Santiago immer ausschweifende Feste gibt, bei denen bis spät in die Nacht getrunken, getanzt und gefeiert wird. Am nächsten Tag zieht dann eine euphorische, wenn auch leicht verkaterte Pilgertruppe vor Freude schluchzend in die heilige Stadt ein. Von so großen Emotionen merken wir nichts. Wir hätten hier einen Abend wie jeden anderen verbracht, wäre nicht eine Klasse von zweiunddreißig 17-jährigen Schülern im refugio. Die Burschen sind unheimlich laut, aber auch sehr freundlich. Ihr Lehrer ist ein Priester, der aus Galicien stammt und der sich wie alle Galicier als Kelte fühlt. (Galicien ist verwandt mit »Gallien«. Man trinkt hier übrigens auch cidre, Apfelwein, und das Nationalinstrument ist der Dudelsack – wie in der Bretagne, diesem anderen Finisterre im Westen Frankreichs. Gallego allerdings, das in Galicien gesprochen wird, ist keine gälische Sprache, sondern mit dem Portugiesischen verwandt.) Der Priester hat uns zu einem Ritual eingeladen, das die alten Kelten vollzogen haben, um die bösen Geister zu vertreiben. Es heißt »Queimada«, was in Gallego »es wurde verbrannt« bedeutet.
    »Ich sollte keine magischen Rituale machen«, hat uns der Priester in Englisch anvertraut, »ich bin ja schließlich Priester.« Aber wir haben ihn ermuntert, sein Ritual zu zelebrieren, denn schließlich sei ein Priester ja verpflichtet, die bösen Geister zu vertreiben.
    Wir gingen alle ins Freie. Es war eine sternenklare, kühle Nacht, und die Schüler schleppten einen riesigen Kochtopf, zwei Kilo Zucker, fünf Zitronen und zwei Liter Schnaps hinaus. Der Zucker wurde in den Topf geleert, mit Zitronensaft vermischt. Anschließend goss der Priester den Schnaps auf. Er hat, nur mit einem Feuerzeug »bewaffnet«, den ganzen Topf, Schöpfer für Schöpfer, zum Brennen gebracht. »Fotografieren und Tonbandaufnahmen sind strikt verboten, sonst funktioniert der Zauber nicht«, hat er gemeint. Ich nehme an, er wäre auch ungern mit Fotos konfrontiert, die ihn als katholischen Priester beim Vollzug eines heidnischen Rituals zeigen. Schließlich brannte der ganze Topf lichterloh, und alle Gesichter glühten in dem rötlichen Licht. Wir mussten eine keltische Zauberformel auswendig lernen, die ungefähr bedeutet: »Die bösen Geister raus! Die guten rein!« Diese Formel mussten wir auf Kommando dreimal im Chor rufen, während der Priester mit großer Geste den brennenden Schnaps mit seinem Schöpfer in Feuerwasserfälle verwandelte. Nun sei der Zaubertrank bereit, meinte er dann, steckte seinen Finger hinein, holte ihn »brennend« wieder heraus und kostete von dem Feuerwasser. Die Burschen quiekten auf wie eine Mädchenklasse und hielten dann ihre Gläser hin. »Moment« – sagte der Priester – »zuerst unsere Gäste!« Und gleich tat sich ein Weg auf, und wir wurden eingeladen, als Erste von dem immer noch lodernden Trank zu kosten. Er schmeckte sehr süß, und der eine Schluck reichte aus, um einen betrunken zu machen. »Wie auf Flügeln werdet ihr durch den Zaubertrank nach Santiago schweben, und ihr werdet gegen Feinde gewappnet sein!«, so lautete der Segen des Priesters, den uns die Schüler ins Englische übersetzten. Dann entschuldigte sich der Priester noch bei uns für den zu erwartenden Lärm in der Nacht: »We are trying to go to sleep now. Please forgive us.«
    Die Gruppe will morgen in der Dunkelheit aufbrechen, um zur berühmten Mittagsmesse, der traditionellen Pilgermesse, in
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