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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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saßen sich an dem schmalen Tisch gegenüber, der den Rezeptionstresen darstellte, und sahen sich an.
    Dann klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab, hörte zu und legte wieder auf, ohne selbst etwas gesagt zu haben.
    »150 000 Dollar«, sagte er.
    »150 000?«, wiederholte sie ungläubig.
    »Hongkong-Dollar, Fräulein.«
    Kaja rechnete im Kopf nach. Das machte etwa 130 000 norwegische Kronen. Das Doppelte ihres Verfügungsrahmens.
     
    Sie fand ihn kurz nach Mitternacht, da war sie bereits vierzig Stunden auf den Beinen. Seit drei Stunden suchte sie den H-Block ab, hatte im Kopf eine innere Karte gezeichnet und systematisch alle Unterkünfte überprüft, Cafés, Straßenküchen, Massageclubs und Gebetsräume, bis sie zu den billigsten Unterkünften kam, den großen Schlafsälen, in denen die Gastarbeiter aus Afrika und Pakistan logierten, die keine eigenen Zimmer hatten, sondern bloß abgetrennte Bereiche ohne Fernseher, Klimaanlage oder jegliches Privatleben. Der schwarze Nachtportier, der Kaja einließ, starrte lange auf das Bild, das sie ihm zeigte, und noch länger auf den Hundertdollarschein, mit dem sie ihm vor der Nase herumwedelte, ehe er ihn nahm und auf eine der Kabinen zeigte.
    Harry Hole, dachte sie. Got you .
    Er lag auf dem Rücken auf einer Matratze und atmete beinahe lautlos. Eine tiefe Falte zog sich über seine Stirn, und der unter dem rechten Ohr vorstehende Kieferknochen zeichnete sich im Schlaf noch deutlicher ab. Aus den anderen Kabinen hörte sie hustende und schnarchende Männer. Wasser tropfte von der Decke und klatschte mit hohlen, missmutigen Seufzern auf den Steinboden. In dem kalten, bläulichen Licht der Neonröhren an der Rezeption, das durch die Öffnung des Vorhangs in die Kabine fiel, erkannte sie vor dem Fenster einen Kleiderschrank, daneben einen Stuhl und auf dem Boden neben der Matratze eine Plastikflasche mit Wasser. Ansonsten war der Raum leer. Es roch bittersüß wie nach verbranntem Gummi. Rauch stieg von einer heruntergebrannten Kippe in einem Aschenbecher auf, der neben der Saugflasche am Boden stand. Als sie sich auf den Stuhl setzte, bemerkte sie einen fettigen, gelblich braunen Klumpen in seiner Hand. Kaja hatte während ihrer Arbeit als Streifenpolizistin genug Hasch gesehen, um sicher zu sein, dass es das nicht war.
    Es war beinahe zwei Uhr, als er aufwachte.
    Zuerst nahm sie nur die minimale Veränderung seines Atemrhythmus wahr. Dann leuchtete im Dunkeln das Weiße seiner Augen auf.
    »Rakel?«, flüsterte er und schlief wieder ein.
    Eine halbe Stunde später schlug er abrupt die Augen auf, zuckte zusammen, warf sich herum und griff nach etwas, das er unter der Matratze aufbewahrte.
    »Ich bin’s«, flüsterte Kaja. »Kaja Solness.«
    Der Körper vor ihr erstarrte mitten in der Bewegung, dann kollabierte er und fiel schwer zurück auf die Matratze.
    »Verdammt, was willst du hier?«, stöhnte er mit belegter Stimme.
    »Dich holen«, sagte sie.
    Er lachte leise und mit geschlossenen Augen. »Mich holen? Gibst du nie auf?«
    Sie holte einen Umschlag hervor, beugte sich hinunter und öffnete ihn. Er schlug die Augen auf.
    »Ein Flugticket«, sagte sie. »Nach Oslo.«
    Die Augen schlossen sich wieder. »Danke, aber ich bleibe hier.«
    »Wenn ich dich finden kann, können die das auch.«
    Er antwortete nicht. Sie wartete, lauschte auf seinen Atem und das Seufzen des tropfenden Wassers. Schließlich sah er sie an, rieb sich den rechten Kieferknochen und stemmte sich auf die Ellenbogen:
    »Hast du ’ne Kippe?«
    Sie schüttelte den Kopf. Er warf die Decke zur Seite, stand auf und trat an den Kleiderschrank. Dafür, dass er sich bereits ein halbes Jahr im subtropischen Klima aufhielt, war er überraschend blass. Auf dem Rücken zeichneten sich seine Rippen ab. Vermutlich hatte er mal einen athletischen Körperbau gehabt, doch das, was von seinen Muskeln noch übrig war, war nur als Schatten unter der weißen Haut zu erkennen. Als er den Kleiderschrank öffnete, bemerkte Kaja überrascht, dass er seine Kleider sorgsam zusammengefaltet hatte. Er zog ein T-Shirt und eine Jeans an, dieselben Sachen, die er tags zuvor getragen hatte, und fischte mit Mühe eine Zigarette aus einem zerknüllten Päckchen.
    Dann stieg er in ein Paar Flip-Flops und zündete die Zigarette an.
    »Komm«, sagte er leise. »Essenszeit.«
     
    Es war halb drei Uhr nachts. Graue Stahlrollläden waren vor den Läden und Snackbars von Chungking heruntergelassen. Nur bei Li Yuan nicht.
    »Wie bist du
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