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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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Victoria Peak, aber der Regen, der seit Anfang September unaufhörlich vom Himmel gefallen war, hatte endlich aufgehört. Die Sonne blinzelte zwischen den Wolken hervor, und ein gewaltiger Regenbogen spannte sich zwischen Hongkong Island und Kowloon auf. Harry schloss die Augen und ließ sich das Gesicht wärmen. Das gute Wetter war gerade rechtzeitig zur Eröffnung der Pferderennsaison gekommen, die am Abend im Happy Valley starten sollte.
    Harry hörte das Summen japanischer Stimmen, das sich näherte und an der Bank vorbeirauschte, auf der er saß. Es kam aus der Seilbahn, die bereits seit 1888 Touristen und Anwohner hinauf in die frischere Luft über der Stadt beförderte. Harry schlug die Augen auf und blätterte durch das Rennprogramm des Abends.
    Er hatte Herman Kluit gleich nach seiner Ankunft in Hongkong kontaktiert. Und Kluit hatte ihm einen Job als Schuld nerfinder angeboten, was bedeutete, dass er Leute ausfindig machen sollte, die ihre Schulden nicht bezahlt und sich abgesetzt hatten. So musste Kluit die Schulden nicht mehr mit beträchtlichem Rabatt an die Triaden verkaufen und sich nicht mehr mit Gedanken an ihre brutalen Mafiamethoden belasten.
    Zu behaupten, Harry gefiele seine Arbeit, wäre übertrieben, aber sie war gut bezahlt und einfach. Er brauchte die Schulden nicht einzutreiben, sondern lediglich die Schuldner ausfindig zu machen. Inzwischen hatte sich allerdings herausgestellt, dass allein seine Erscheinung – 193 Zentimeter mit einer imposan ten Narbe vom Mundwinkel zum Ohr – ausreichte, dass ihm die meisten das Geld gleich aushändigten. Und er griff nur in Ausnahmefällen auf die Suchmaschine des Servers in Deutschland zurück.
    Sein Geheimrezept war, auf Dope und Alkohol zu verzichten. Was ihm bisher gelungen war.
    An diesem Tag hatten zwei Briefe an der Rezeption auf ihn gewartet. Wie sie ihn ausfindig gemacht hatten, war ihm schleierhaft. Er ahnte aber, dass Kaja etwas damit zu tun haben musste. Der eine Brief trug das Logo der Osloer Polizei – Harry tippte auf Gunnar Hagen –, über den anderen hatte er gar nicht erst mutmaßen müssen. Er hatte Olegs steile und noch immer kindliche Schrift sofort erkannt. Harry hatte beide Briefe in seine Jackentasche gesteckt, ohne einen Entschluss gefasst zu haben, ob und wann er sie lesen wollte.
    Er faltete das Rennprogramm zusammen und legte es neben sich auf die Bank. Blinzelte zum chinesischen Festland hinüber, wo der gelbliche Smog mit jedem Jahr dichter wurde. Aber hier oben auf dem Berggipfel war die Luft noch beinahe frisch. Er sah hinab ins Happy Valley. Auf die Friedhöfe im Westen der Wong Nai Chung Road, auf denen es eigene Bereiche für Protestanten, Katholiken, Muslime und Hindus gab. Er sah die Pferderennbahn und wusste, dass Jockeys und Pferde dort bereits für die abendlichen Rennen trainierten. Bald würde das Publikum auf die Rennbahn strömen, die Hoffnungsvollen, die Desillusionierten, die Glücklichen und die Unglücklichen. All jene, die kamen, um sich ihren Traum zu erfüllen, und auch die anderen, die nur zum Träumen kamen. Die Verlierer, die ein unkalkuliertes Risiko eingingen, und jene, die ihr Risiko kalkulierten und dennoch verloren. Sie alle waren nicht zum ersten Mal dort, und sie würden auch nicht zum letzten Mal dort sein. Das Gleiche galt für die Geister von den Friedhöfen dort unten, die vielen Hundert Menschen, die 1918 bei dem Feuer auf der Happy-Valley-Rennbahn ihr Leben gelassen hatten. Sie alle waren überzeugt davon, dass es ihnen an diesem Abend gelingen würde, die Quoten zu überlisten, den Zufall zu besiegen, mit den Taschen voll knisternder Hongkong-Dollar abzuziehen und trotz eines Mordes ungestraft davonzukommen. In wenigen Stunden würden sie die Rennbahn füllen, die Programme studieren und ihre Wettscheine ausfüllen. Mit doubles, quinellas, exactas, trippel, superfectas oder wie immer ihre Glücksspielgötter hießen. Sie würden vor den Wettschaltern Schlange stehen, um ihre Einsätze zu machen. Die meisten von ihnen starben bei jedem Zieleinlauf ein wenig, aber die Erlösung lag nur fünfzehn Minuten entfernt, wenn die Startboxen sich für das nächste Rennen öffneten. Außer man war ein bridge jumper, jemand, der alles, was er besaß, auf ein Pferd in einem Lauf setzte. Aber niemand klagte. Jeder kannte die Gewinnchancen.
    Nun, manche kannten ihre Chancen, andere bereits den Rennausgang. Erst kürzlich waren auf einer Rennbahn in Südafrika in den Startboxen vergrabene Rohre
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