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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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signalisiert.
    Mit ihrer Zunge spürte sie den Noppen nach, die aus der Kugel herausragten und sich gegen ihren Gaumen pressten, gegen das weiche Fleisch unter ihrer Zunge, gegen die Innenseite ihrer Zähne und gegen ihr Zäpfchen. Sie hatte versucht zu sprechen, und er hatte aufmerksam den unartikulierten Lauten gelauscht, die aus ihrem Mund gedrungen waren, genickt, als sie es schließlich resigniert aufgab, und eine Spritze hervorgeholt. Der Tropfen an der Nadelspitze hatte im Licht der Taschenlampe geglitzert, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Rühr den Draht nicht an.«
    Wenige Sekunden nachdem er ihr die Spritze in den Hals gesetzt hatte, war sie ohnmächtig geworden.
     
    Sie lauschte ihrem eigenen panischen Atem und starrte in die Dunkelheit.
    Sie musste etwas tun.
    Sie presste die Handflächen auf den Sitz des Stuhls, der von ihrem Schweiß ganz klamm war, und stand auf. Niemand hinderte sie daran.
    Langsam und mit kurzen Schritten ging sie bis zur Wand und tastete sich daran entlang, bis sie eine kalte, glatte Fläche unter ihren Fingern spürte. Die Metalltür. Sie packte den Riegel und ruckte daran, aber er bewegte sich nicht. Verschlossen. Natürlich war die Tür verschlossen, was hatte sie denn gedacht? Hörte sie wirklich ein Lachen, oder war das Geräusch in ihrem eigenen Kopf? Wo war er? Warum spielte er auf diese Weise mit ihr?
    Sie musste etwas tun. Denken. Aber um richtig nachdenken zu können, musste sie diese Metallkugel loswerden. Die Schmer zen trieben sie bald in den Wahnsinn. Sie schob Daumen und Zeigefinger auf beiden Seiten in die Mundwinkel. Spürte die Noppen. Versuchte vergeblich, ihre Finger unter eine davon zu schieben. Sie musste husten und stellte panisch fest, dass sie keine Luft mehr bekam. Die Noppen hatten die Schleimhaut am Eingang ihrer Luftröhre stark gereizt, das Gewebe war angeschwollen, und sie lief Gefahr zu ersticken. Sie trat gegen die Metalltür und versuchte zu schreien, aber die Kugel erstickte alle Laute. Sie gab wieder auf. Lehnte sich gegen die Wand und lauschte. Hörte sie vorsichtige Schritte? Bewegte er sich durch den Raum? Spielte er Blindekuh mit ihr? Oder war es nur das Blut, das in ihren Ohren rauschte? Sie bereitete sich auf die Schmerzen vor und presste die Kiefer zusammen. Es gelang ihr aber nur kurz, die Noppen wieder zurück in die Kugel zu schieben, bevor sie ihren Mund erneut aufspannten.
    Etwas tun. Denken.
    Federn. Die Noppen waren gefedert.
    Sie waren zum Einsatz gekommen, als er an dem Draht gezogen hatte.
    »Rühr den Draht nicht an«, hatte er gesagt.
    Warum nicht? Was würde geschehen?
    Sie glitt an der Wand hinunter auf den Boden. Feuchte Kälte stieg von dem Beton auf. Sie wollte wieder schreien, schaffte es aber nicht. Stille. Schweigen.
    All die Worte, die sie an die von ihr geliebten Menschen hätte richten sollen, statt sich schweigend mit Leuten zu umgeben, die ihr egal waren.
    Es gab keinen Ausweg. Nur sie und diesen wahnsinnigen Schmerz, ihr Kopf, der zu zerspringen drohte.
    »Rühr den Draht nicht an.«
    Wenn sie daran zog, würden die Noppen vielleicht zurück in die Kugel springen und sie von ihren Schmerzen befreien.
    Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Wie lange war sie schon hier? Zwei Stunden? Acht? Zwanzig Minuten?
    Wenn es so einfach war und sie wirklich nur an diesem Draht ziehen musste, warum hatte sie es dann nicht längst getan? Wegen der Warnung eines ganz offensichtlich kranken Mannes? Oder war das Teil des Spiels? Sollte sie dazu verleitet werden, diesen vollkommen unnötigen Schmerz zu ertragen? Oder zielte das Spiel darauf ab, dass sie sich der Warnung widersetzte und am Draht zog, so dass … so dass etwas ganz Furchtbares geschah? Was sollte denn geschehen? Was war das für eine Kugel?
    Es war ein Spiel, da war sie sich sicher, ein grausames Spiel. Denn ihr blieb keine Wahl. Die Schmerzen waren unerträglich, ihr Hals schwoll an, und bald würde sie ersticken.
    Noch einmal versuchte sie zu schreien, aber es wurde nur ein Schluchzen daraus, und sie blinzelte und blinzelte, hatte aber keine Tränen mehr.
    Ihre Finger fanden den Draht auf ihren Lippen. Sie zog vorsichtig daran, bis er sich straffte.
    Sie bedauerte, so viele Dinge nicht getan zu haben, keine Frage. Aber wenn ein Leben voller Entsagungen an einen anderen Ort als diesen führte, würde sie sich ohne Zögern für ein solches entscheiden. Sie wollte einfach nur leben. Egal, was für ein Leben. So einfach war das.
    Sie zog den Draht heraus.
     
    Die Nadeln
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