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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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seit sie in Norwegen abgeflogen war, so steif, dass sie Schmerzen hatte, welche Haltung auch immer sie einnahm. Sie neigte den Kopf von einer Seite zur anderen, um ihren Kreislauf ein bisschen in Gang zu bringen. Dann legte sie ihn von einem Knacken begleitet in den Nacken und starrte in die bläulich weißen Neonröhren an der Decke, ehe sie den Kopf wieder nach vorne nahm und direkt in ein sonnenverbranntes, gehetztes Gesicht starrte. Er war vor einer der herabgelassenen Stahlrollläden im Gang stehen geblieben und scannte Li Yuans kleines Etablissement mit den Augen. Sein Blick blieb an den beiden Chinesen am Tresen hängen. Er hastete weiter.
    Kaja rappelte sich auf, aber ein Bein war eingeschlafen und gab unter ihr nach. Sie nahm ihre Tasche und hinkte, so schnell sie konnte, dem Mann hinterher.
    »Welcome back« , hörte sie Li Yuan hinter sich rufen.
    Wie dünn er aussah. Auf den Bildern war er breit und groß gewesen, und in der Talkshow im Fernsehen hatte der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, ausgesehen wie für Pygmäen gemacht. Trotzdem zweifelte sie keine Sekunde daran, dass er es war: der kurzgeschorene, etwas eckige Schädel, die markante Nase, die Augen mit dem Spinnennetz feiner Adern und die alkoholumspülte, hellblaue Iris. Das entschlossene Kinn mit dem überraschend milden, beinahe schönen Mund.
    Sie hinkte auf die Nathan Road und erblickte im Schein der Leuchtreklamen die Rückseite einer Lederjacke, die aus der Menschenmenge herausragte. Er ging nicht schnell, trotzdem musste sie fast rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Als er von der belebten Geschäftsstraße in eine engere Straße mit weniger Menschen abbog, vergrößerte sie den Abstand zu ihm. Aus den Augenwinkeln registrierte sie das Straßenschild, Melden Row. Sie war versucht, einfach zu ihm zu gehen und sich vorzustellen, um es hinter sich zu bringen. Aber sie wollte nach Plan vorgehen: Zuerst musste sie herausfinden, wo er wohnte. Es hatte zu regnen aufgehört, und plötzlich rissen die Wolken auf und offenbarten einen hohen, samtschwarzen Himmel mit stecknadelkopfgroßen, blinkenden Sternen.
    Nach etwa zwanzig Minuten blieb er plötzlich an einer Ecke stehen, so dass Kaja schon fürchtete, entdeckt worden zu sein. Aber er drehte sich nicht um, sondern zog etwas aus seiner Jackentasche, das sie etwas verwirrte. Eine Saugflasche?
    Dann bog er ab.
    Kaja folgte ihm auf einen offenen, überlaufenen Platz, der hauptsächlich von jungen Menschen bevölkert war und an dessen Ende ein Schild mit englischer und chinesischer Schrift über einer breiten Glastür leuchtete. Kaja erkannte die Titel einiger aktueller Filme wieder, die sie auch verpassen würde. Ihr Blick fand seine Lederjacke gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er die Saugflasche auf den niedrigen Sockel einer Bronzeskulptur stellte, die einen Galgen mit einer leeren Schlinge darstellte. Er ging an zwei besetzten Bänken vorbei, nahm auf der dritten Platz und holte eine Zeitung hervor. Nach etwa zwanzig Sekunden stand er wieder auf, ging zurück zur Skulptur, griff im Vorbeigehen nach der Flasche, steckte sie in die Jackentasche und ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war.
    Es hatte wieder zu regnen begonnen, als sie ihn zum Chungking Mansion abbiegen sah. Sie sann darüber nach, wie sie das Gespräch mit ihm beginnen sollte. Vor dem Aufzug war jetzt kein Gedränge mehr, trotzdem nahm er die Treppe ins darüberliegende Stockwerk, bog nach rechts ab und verschwand durch eine Drehtür. Sie hastete hinter ihm her und fand sich plötzlich in einem verfallenen, menschenleeren Treppenhaus wieder, in dem es aufdringlich nach Katzenpisse und nassem Beton stank. Sie hielt den Atem an und lauschte dem klatschenden Aufprallen von Tropfen. Als sie gerade nach oben gehen wollte, hörte sie unter sich eine Tür ins Schloss fallen. Sie rannte die Treppe hinunter und blieb vor einer verbeulten Metalltür stehen, der einzig möglichen Quelle für dieses Geräusch. Sie legte die Hand auf die Klinke, spürte das Zittern kommen, schloss die Augen und fluchte innerlich. Dann riss sie die Tür auf und trat ins Dunkel, das hieß ins Freie.
    Etwas huschte über ihre Füße, aber weder schrie sie, noch rührte sie sich.
    Im ersten Augenblick glaubte sie, in einem Fahrstuhlschacht gelandet zu sein, doch als sie nach oben sah, erblickte sie rußschwarze Wände, von einem Wirrwarr aus Rohren, Leitungen, verdrehten Metallstümpfen und eingestürzten, verrosteten Gerüsten überzogen. Es war
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